„500 bis 800 Dollar kostet ein Mädchen in Mossul“

Die Journalistin Sabine Küper-Büsch erzählt im Interview mit religion.ORF.at von ihrer Recherchereise in den Nordirak, von den Horrorgeschichten der dort gestrandeten Flüchtlinge und von interreligiöser Solidarität unter den Vertriebenen.

„Bei fast 50 Grad Hitze sind die Flüchtlingscamps wie ein von Wüstenstaub umwehter Glutofen“, sagt Sabine Küper-Büsch. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Thomas Büsch ist sie für das ORF-Religionsmagazin „Orientierung“ über die Türkei in den Nordirak gereist, um sich an Ort und Stelle ein Bild von der Flüchtlingskatastrophe zu machen, die durch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ausgelöst wurde.

Sie fuhren mit dem Auto, um ein Gefühl für die Fluchtwege und Entfernungen zu bekommen, die Tausende von Menschen momentan zu Fuß zurücklegen müssen. Die Reise begann in Mardin im Südosten der Türkei nahe der syrischen Grenze. Sie führte über den Grenzübergang Habur auf der türkischen Seite in die nordirakische Grenzstadt Zakho und schließlich nach Dohuk. Dort befinden sich momentan die meisten Flüchtlinge im Nordirak.

Sendungshinweis

Das ORF-Religionsmagazin „Orientierung“ zeigte am Sonntag, 7. September, die Reportage von Sabine Küper-Büsch und Thomas Büsch aus dem Nordirak.

Vier Tage lang sprachen sie mit Flüchtlingen - vor allem mit den aus der Niniveh-Ebene vertriebenen Christen und den Jesiden vom Berg Sindschar - sowie mit Vertretern von Hilfsorganisationen und Kirchen. Sie wagten sich bis in die uralte christliche Stadt Alqosh vor, die nur 30 Kilometer von der besetzten Stadt Mossul entfernt liegt. Mit religion.ORF.at sprach Sabine Küper-Büsch über Ihre Erlebnisse auf der Reise und über die religiöse Gemengelage unter den Flüchtlingen.

religion.ORF.at: Frau Küper-Büsch, wie haben Sie die aktuelle Lage im Nordirak erlebt?

Sabine Küper-Büsch: Der Nordirak war im Vergleich zu anderen Teilen des Irak immer eine Region mit einem relativ hohen Sicherheitsstandard. Wir haben dort 2002, vor der Intervention der Amerikaner, eine lange Reportage gedreht. Damals flohen die Kurden aus Mossul vor der Arabisierungspolitik der Regierung Saddam Husseins. Flüchtlinge bauten Lehmhütten. Überall wurde gebaut, um den Bedarf an Wohnraum zu decken.

Seit dieser Zeit hat sich die Infrastruktur stark entwickelt. Sie sehen in Städten wie Dohuk große Wohnblocks mit gehobenem Wohnkomfort. Der Islamische Staat hat es vermocht, diesen langsam wachsenden Wohlstand in ganz kurzer Zeit infrage zu stellen. Familien werden in Rohbauten untergebracht und campen am Straßenrand. Die Angst grassiert vor allem unter denjenigen, die den IS-Terror persönlich erlebt oder aber ihm um Haaresbreite entronnen sind.

Verschleierte Frauen in desolatem Gebäude

Reuters/Youssef Boudlal

Jesidische Flüchtlinge in einem Rohbau in Dohuk

Was sagen die Flüchtlinge über den Islamischen Staat?

Sie sehen ihn als die brutalste Mörderbande an, die jemals im Irak gewütet hat. Die brutalen Massenexekutionen, die Zurschaustellung der Opfer, das mitleidlose Abschlachten selbst von Kindern und die Entführung und Versklavung von Frauen verkörpern einen solch primitiven Barbarismus, dass die Menschen, mit denen wir geredet haben, zwischen Ekel, Verzweiflung, maßloser Wut und tiefer Trauer schwankten.

Was passiert mit den Frauen genau?

Viele jesidische Familien haben noch Telefonkontakte zu Verwandten, die sich in der Gewalt der Terroristen befinden. Das sind meist junge Frauen, die entführt worden sind. Der Islamische Staat sieht sie als „Bräute“ an, die entweder vergewaltigt oder verkauft werden. 500 bis 800 Dollar kostet ein gefangenes Mädchen in Mossul, erwachsene Frauen sind billiger.

Ein kurdischer Fernsehsender veröffentlichte ein mit einem Mobiltelefon aufgenommenes Foto aus Mossul, auf dem gefesselte Frauen in weißen Schleiern auf einem Viehwagen transportiert werden. Manche werden nach Raqqa in Syrien verschleppt. Dort reisen auch Männer aus anderen arabischen Ländern an, vor allem aus Katar, Kuwait und Saudi-Arabien, um Frauen zu kaufen.

Sie sind sicherlich mit einer gewissen Erwartungshaltung in den Irak gereist. Inwiefern hat sich diese erfüllt?

Ich hätte nicht erwartet, dass die menschliche Psyche so selbstschützend verdrängen kann. Ich hatte mir zur Vorbereitung der Reise sehr viele der fürchterlichen IS-Propagandavideos angesehen, um entsprechend mit den Flüchtlingen umgehen zu können. Dennoch habe ich das Ausmaß des Schreckens erst im konkreten Kontakt mit Betroffenen verstanden.

In den Augen dieser Menschen hat sich eine totale Hoffnungslosigkeit eingefroren. Sie haben so tief in Abgründe geschaut, so viel verloren und wünschen sich jetzt viel mehr Hilfe als sie erhalten. Im Grunde wollen alle dort so schnell wie möglich weg. Gleichzeitig geht der normale Alltag in Dohuk weiter, andere fahren normal zur Arbeit, ihr Leben spielt sich am Rande der großen Katastrophe ab. Diese Kluft der Erlebniswelten ist verwirrend. Auch viele Iraker empfinden ähnlich. Niemand möchte sich vorstellen, mit IS persönlich konfrontiert zu sein.

Gab es Überraschungen - etwas, das Sie überhaupt nicht erwartet hatten?

Viele Flüchtlinge berichten, dass der Islamische Staat nur deswegen so erfolgreich voranschreitet, weil Teile der sunnitischen Bevölkerung sich solidarisieren. Nachbarn etwa malten das arabische N für „Nazarener“, Christen, an ihre Häuser, damit man sie aufspüren konnte (Mehr dazu in Irak: Brandmal „N“ wird zum Solidaritätszeichen; Anm.). Manche machen das aus Angst und Überanpassung, um nicht selbst als nicht auf Linie zu erscheinen.

Andere spekulieren ganz berechnend auf das Hab und Gut der christlichen Nachbarn. Eine schreckliche Erfahrung des Verrats für die Betroffenen. Allerdings ist das nicht zu verallgemeinern. Andere erzählten wiederum voll Dankbarkeit, dass die sunnitischen Nachbarn ihnen ihr Auto zur Flucht überlassen haben oder auch jetzt noch auf ihre Häuser aufpassen. Es existieren wohl alle Facetten menschlicher Abgründe, aber auch großer Hilfsbereitschaft in solchen Ausnahmesituationen.

Kleiner Bub vor riesiger Zeltstadt

Reuters/Youssef Boudlal

Mehr als eine halbe Million Flüchtlinge sind derzeit in und um die Stadt Dohuk im Nordirak gestrandet

Wie beurteilen die Flüchtlinge die internationale Berichterstattung und das Verhalten der internationalen Gemeinschaft?

Sie haben den Eindruck, dass niemand außerhalb des Nordiraks sich darum schert, dass ihnen ein Genozid droht. Die Menschen im Irak haben schon mehrfach Vertreibung erlebt. Saddam Husseins Luftwaffe bombardierte 1988 die nordirakische Stadt Halabja mit Giftgas. 5.000 Menschen, vor allem Kurden, starben damals. 1991 wurde eine UNO-Schutzzone im Nordirak eingerichtet, die mit der Intervention der Amerikaner 2003 aufgehoben wurde.

Vor allem die Christen und Jesiden unterstreichen, dass damit bereits ihre Probleme mit aufkeimenden salafistischen Extremisten begannen, die jetzt mit dem Vormarsch des Islamischen Staats eskalieren. Sie wollen neben der jetzt schleppend anlaufenden humanitären Hilfe die erneute Einrichtung einer UNO-Schutzzone und internationale militärische Unterstützung.

Was sind aus Sicht der Flüchtlinge die Ursachen für den plötzlichen Aufstieg des Islamischen Staats?

Sie sehen ihn, wie gesagt, vor allem als Folge der Intervention der Amerikaner, bzw. ihrer danach verfolgten Politik. Es gab vor 2003 bereits eine salafistische Bewegung im Nordirak, aber die war eine unter mehreren rivalisierenden Fraktionen. Nach der Intervention wurde Al-Kaida eine ernsthafte Macht im Nordirak, der Islamische Staat ist aus dieser Bewegung hervorgegangen. Das sehen auch die Menschen in der Region so, sie fühlen sich mit diesem Ausmaß an Gewalt allein gelassen. Zumal IS ja Kämpfer aus vielen Ländern anzieht, also im Grunde eine internationale Bewegung ist.

Unter den Flüchtlingen sind ja vor allem Jesiden und Christen, aber auch einige Muslime. Wie stehen diese Gruppen zueinander?

Wir konnten unter den Flüchtlingen überhaupt keine religiösen Spannungen beobachten. Sie teilen alle das Schicksal der Vertreibung. Es gibt eine gewisse Segregation, die aber eher sozial und regional als religiös begründet ist. Die Jesiden leben eher in den Camps, die Christen finden viel Unterstützung in den christlichen Gemeinden.

Es gibt aber sehr viele Überschneidungen und gegenseitige Hilfeleistungen. Die Kirchen etwa verteilen sehr viele Hilfsgüter, aber nicht nur an christliche Flüchtlinge. In einem Dorf wohnten Christen im Klostergarten. Die unterhalb des Dorfes in einer Rohbausiedlung lebenden Jesiden benutzen die Infrastruktur des Dorfes mit und werden mit Lebensmitteln versorgt.

Inwieweit wird der Islam an sich unter den Flüchtlingen für die Krise verantwortlich gemacht?

Gar nicht. Der Islamische Staat ist eine Terrororganisation, die die Religion verstümmelt. So wird er auch von den Angehörigen aller unterschiedlichen Religionsgruppen gesehen. Erschreckend finden die Flüchtlinge nur, dass sich Sunniten, die an sich gar nicht zum Islamischen Staat gehören, teilweise der Organisation anschließen. Das wird allerdings nicht der Religion, sondern dem Charakter dieser Menschen zur Last gelegt.

Michael Weiß, religion.ORF.at