Türkei: Parlamentspräsident will islamische Verfassung

Parlamentspräsident Ismail Kahraman hat eine islamische Verfassung für die Türkei gefordert. „Wir sind ein muslimisches Land. Als Konsequenz müssen wir eine religiöse Verfassung haben.“

Der Nachrichtenagentur Anatol zufolge machte er seinen Vorstoß am Montag bei einer Konferenz in Istanbul. Kahraman ist Mitglied der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Säkularismus dürfe in der neuen Verfassung keine Rolle mehr spielen, zeigte sich Kahraman überzeugt. Offizielle Angaben kolportieren bis zu 99 Prozent Muslime in der Türkei, zu den Minderheiten zählen Schiiten, Christen verschiedener Konfessionen, Juden, Bahai und Jesiden.

Der türkische Parlamentspräsident Ismail Kahraman

APA/AFP/Adem Altan

Der türkische Parlamentspräsident Ismail Kahraman fordert eine religiöse Verfassung für die Türkei

Der Vorsitzende der weltlichen Republikanischen Volkspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, widersprach vehement. Der vom Staatsgründer der modernen Türkei Mustafa Kemal Atatürk eingeführte Säkularismus sei wichtig, damit jeder frei seine Religion ausüben könne, teilte Kilicdaroglu über den Internet-Kurzbotschaftendienst Twitter mit.

Säkularer Staat mit Einschränkungen

Obwohl die Türkei ein säkularer Staat ist, in dem es keine Staatsreligion gibt und Religionsfreiheit garantiert, wird doch die Mehrheitsreligion - der sunnitische Islam - gefördert. So wird beispielsweise an allen Schulen sunnitischer Religionsunterricht für alle Schüler abgehalten. Darüber hinaus existiert das direkt dem Ministerpräsidenten unterstellte Religionsamt, das die 80.000 Moscheen in der Türkei verwaltet und für eine staatstreue Auslegung des Islam zuständig ist.

Die Türkei hatte ihre ursprüngliche Verfassung von 1924 vier Jahre später geändert und den Islam als Staatsreligion gestrichen. Historiker betrachten diesen Schritt als Grundstein für die moderne, demokratische und säkulare Türkei. Die derzeitige Verfassung enthält keine Staatsreligion und beruft sich auch nicht auf Allah. In der Präambel zur Verfassung heißt es: „Heilige religiöse Gefühle dürfen absolut keine Rolle in staatlichen Angelegenheiten und der Politik spielen, wie es das Prinzip des Säkularismus vorsieht.“

Erdogan plant Verfassungsänderung

AKP-Chef und Präsident Recep Tayyip Erdogan plant bereits seit längerem eine Änderung der Verfassung. Zwar hat die AKP im Parlament die absolute Mehrheit, dennoch fehlt ihr die für eine Änderung der Verfassung erforderliche Mehrheit. Parlamentspräsident Kahraman ist federführend bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung, die nach Angaben der Regierung auf den europäischen Menschenrechtsstandards basieren soll. Die AKP verfügt im Parlament über 317 der 550 Sitze. Um ihren Verfassungsentwurf einem Referendum zu stellen, benötigt sie 330 Stimmen.

Kritiker befürchten, dass eine neue Verfassung dem zunehmend autokratisch regierenden Erdogan weitere Befugnisse verleihen könnte. Erdogan will aus der Parlaments- eine Präsidialdemokratie machen. Die Oppositionsparteien lehnen das ab, sie werfen ihm schon jetzt ein Abgleiten in eine autoritäre Herrschaft vor.

EGMR: Aleviten diskriminiert

Die Türkei verletzt nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) die schätzungsweise 20 Millionen Aleviten im Land in ihrer Religionsfreiheit. Sie würden ohne objektive und einsichtige Rechtfertigung anders behandelt als die Mehrheit der sunnitischen Muslime, entschieden die Straßburger Richter am Dienstag. Damit hatte eine Beschwerde von mehr als 200 Aleviten Erfolg - mehr dazu in EGMR: Aleviten in der Türkei diskriminiert.

Stichwort Laizismus in der Türkei

Das Prinzip des Laizismus wurde am 5. Februar 1937 in die türkische Verfassung aufgenommen. Der damalige Staatspräsident Mustafa Kemal Atatürk orientierte sich bei seinem strikten Westkurs an Frankreich, das als Geburtsland des Laizismus gilt. Der Begriff hat seine Wurzeln in der griechischen Bezeichnung Laie für einen Nichtgeistlichen. Das Leitprinzip des Laizismus besagt die Trennung von Staat und Religion: Glauben ist Privatsache und hat keinen Platz im öffentlichen Leben hat, wie beispielsweise in der Schule, der Wissenschaft und der Kultur.

Die mehrheitlich sunnitisch-muslimisch geprägte Türkei ist das einzige islamische Land der Welt, das laizistisch ist. Trotz des laizistischen Prinzips wurde allerdings mit einer Verfassungsänderung im Jahr 1982 der sunnitische Religionsunterricht als Pflichtfach an staatlichen Schulen eingeführt.

Kritiker unterstellen dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan, er würde den Laizismus aushebeln wollen. Vor allem rund um eine Aufhebung des Kopftuchverbotes entzündete sich in der Türkei die Debatte um den Laizismus und eine Islamisierung der Gesellschaft des Landes.

religion.ORF.at/APA/dpa/AFP