Charles Taylor über das Christentum und die Moderne

Der gläubige Christ, Philosoph und Politikwissenschaftler Charles Taylor hat im Interview mit dem ORF-Radio über Papst Franziskus, das Frauenpriestertum und das Zusammenleben mit Muslimen gesprochen.

Ein Vorurteil besagt, dass praktizierende Katholikinnen und Katholiken vielfach etwas altmodisch sind, sich von einem alten Mann in Rom Vorschriften machen lassen anstatt selber zu denken. Und verklemmt seien sie in der Regel auch, so das Stereotyp. Der kanadische Philosoph Charles Taylor (86) entspricht dem nicht. Er analysiert aktuelle Entwicklungen und kommentiert unter anderem Vorgänge in der römisch-katholischen Kirche mit Weitblick.

Der Philosoph Charles Taylor bei einem Vortrag

IWM

Der Philosoph Charles Taylor im Institut für die Wissenschaften vom Menschen

Papst Benedikt XVI. habe die Kirche immer gegen den Relativismus verteidigt. Dabei lebten wir in einer Welt voller verrückter Fanatiker, so der Philosoph. „Ein paar Relativisten wären da gar nicht schlecht. Ich glaube, Benedikt hat vieles nicht verstanden. Franziskus dagegen schon. Er kann das Evangelium besser vermitteln. Das Wichtigste für ihn ist nicht, mit allen Mitteln zu verteidigen, sondern die Hand auszustrecken“, sagte Taylor im Interview.

Sendungshinweis

Praxis - Religion und Gesellschaft, Mittwoch 12.9.2018, 16.05 Uhr, Ö1.

Bereits Änderungen bewirkt

Papst Franziskus habe Änderungen bewirkt, die sich nicht so leicht wieder rückgängig machen ließen. So habe noch nie zuvor eine gesamte katholische Bischofskonferenz dem Papst ihren Rücktritt angeboten - wie kürzlich geschehen, als die chilenischen Bischöfe in der Folge eines Missbrauchsskandals nach Rom zitiert wurden - mehr dazu in Alle chilenischen Bischöfe bieten Rücktritt an.

Und auch seit Langem heftig diskutierten Fragen, wie etwa der Kommunionsempfang von Gläubigen, die nach einer Scheidung wieder geheiratet haben, sieht Taylor, der Mitglied des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen ist und kürzlich zu Gast in Wien war, Signale hin zu mehr Verständnis für die Betroffenen.

Eine Frage der Definition

Man müsse eine positive Definition von Ehe etablieren, anstatt wiederverheirateten Geschiedenen die Kommunion zu verweigern. Die Frage hier sollte sein, wie man den besten seelsorgerlichen Umgang mit diesen Menschen findet.

„Wenn man nur nach der Schuld fragt, also wer das Scheitern einer Ehe hervorgerufen hat, dann wird man feststellen, dass es viele Personen gibt, die an gar nichts schuld sind, die alles richtig gemacht haben. Und die trotzdem jetzt geschieden sind und nach einer erneuten Heirat nicht mehr zu den Sakramenten zugelassen sind.“

„Was war das Problem?“

Vergleichbare Entwicklungen sieht Charles Tayor auch in der Frage, ob römisch-katholische Frauen eines Tages die Weihe empfangen und dadurch ganz offiziell Geistliche werden können. Er jedenfalls sieht keinen stichhaltigen theologischen Grund, sie auszuschließen. „Natürlich wird es Widerstände geben, da liegen turbulente Jahrzehnte vor uns. Aber irgendwann werden die Leute sagen: Was war in dieser Sache eigentlich so lange das Problem?“

Muslime mit Punktesystem

Als Philosoph und Politologe beschäftigt sich Taylor auch intensiv mit dem Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Der Islam und die christlich bzw. säkular geprägte Gesellschaft sei auch in Kanada Thema, sagte er. Kanada verfolge eine sehr restriktive Politik und nehme nur Personen auf, die einem strengen Punktesystem entsprechen.

Man bekommt Punkte für Sprachkenntnisse, absolvierte Ausbildungen und so weiter. „Bei uns, in der Provinz Quebec, ist der Bildungsstandard innerhalb der muslimischen Community doppelt so hoch wie innerhalb der Durchschnittsbevölkerung.“ Manche der Musliminnen und Muslime in Kanada seien nicht religiös, andere lebten ihren Glauben sehr liberal.

Keine Angst vor Veränderung

Trotz der gut funktionierenden Maßnahmen gebe es die Angst vor möglichen Veränderungen. „Aber: Die Menschen verändern sich immer. Auch ohne Zuwanderung. Die Erfahrung, Kinder zu haben, sie aufwachsen zu sehen, Enkel zu haben - all das verändert uns so viel mehr als Menschen aus anderen Kulturen. Wir alle verändern uns. Aber wir werden nicht zu Musliminnen und Muslimen werden - warum sollte das geschehen?“

Wenn man sich mit Menschen aus anderen Kulturen austausche, bekomme man neue Einblicke, andere Zugänge. „Wir werden dadurch aber nichts Entscheidendes verlieren. Das ist eine Illusion - allerdings eine Illusion, die ich ganz gut nachvollziehen kann.“ Wichtig sei es, so Taylor, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, erst dann könnten beide Seiten erkennen, was für eine Bereicherung die jeweils anderen seien.

Brigitte Krautgartner, Nina Goldmann, religion.ORF.at

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