Religiöse Minderheit der Jesiden im Visier von IS

Die Dschihadistengruppe Islamischer Staat (IS) nimmt vermehrt die religiöse Minderheit der Jesiden ins Visier. Zehntausende von ihnen sind laut UNO-Angaben ohne ausreichend Wasser und Lebensmittel in einer Bergregion im Nordirak eingeschlossen.

Am Donnerstag (Ortszeit) gab US-Präsident Barack Obama grünes Licht für Luftangriffe gegen IS im Nordirak, um in der Region eingesetzte US-Militärberater zu schützen und ein Massaker an der Zivilbevölkerung zu verhindern. Außerdem ordnete er den Abwurf von Hilfsgütern für die belagerten Jesiden an.

Rund 200.000 Menschen befinden sich auf der Flucht vor den sunnitischen IS-Kämpfern. Nach der Einnahme der Stadt Sindschar durch die Terrormiliz vor einigen Tagen waren Tausende Jesiden in eine unwirtliche Bergregion geflüchtet und werden dort von den IS-Kämpfern belagert. Die radikalsunnitische Bewegung IS behandelt Andersgläubige wie Jesiden, Christen und schiitische Muslime mit äußerster Brutalität.

Kinder an Folgen von Vertreibung gestorben

Am Wochenende waren rund 40 jesidische Kinder an den direkten Folgen der Angriffe auf die Stadt Sindschar gestorben. Wie das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF am Dienstag mitteilte, starben die Kinder an den „direkten Folgen von Gewalt, Vertreibung und Dehydrierung“. Am Sonntag hatten IS-Kämpfer die Kontrolle über Sindschar übernommen. Tausende Menschen flohen in Panik aus ihren Häusern, viele versteckten sich ohne jegliche Vorräte in den Bergen. Die geflohenen Familien, darunter auch rund 25.000 Kinder, die in den Bergen festsäßen, benötigten „dringend Hilfe“ erklärte UNICEF. Ihnen fehle es vor allem an Wasser und Sanitärversorgung.

Oft übersehene Minderheit

Die jüngsten Ereignisse lenken die internationale Aufmerksamkeit, die bisher eher der Christenverfolung im Irak galt, auch auf die jesidische Minderheit, für die Sindschar bisher als eine der letzten Rückzugsstätten galt. Die Verfolgung und Vertreibung durch die IS-Milizen ist das jüngste Kapitel in der traurigen Geschichte der Jesiden, die besonders in den vergangenen Jahrzehnten von einer Vielzahl derartiger Übergriffe geprägt war.

Jesidische Familie

Reuters/Shamil Zhumatov

Eine jesidische Familie auf der Flucht vor IS

„In unserer Geschichte haben wir 72 Massaker erlebt. Wir sind besorgt, dass Sindschar das 73. sein könnte“, sagte der jesidische Abgeordnete Hadschi Ghandur zur „Washington Post“. Denn für IS sind die Jesiden eine Ansammlung von Teufelsanbetern und Ungläubigen. Diese Vorurteile - die von vielen Muslimen und auch von Christen geteilt werden - beruhen großteils darauf, dass die Jesiden ihre Religion vornehmlich im Verborgenen leben und es daher wenige gesicherte Informationen über die Inhalte gibt.

Vor allem im Nordirak heimisch

Die Jesiden sind Kurden und lebten bis zur Machtübernahme durch die Terrorgruppe IS vor allem in der Gegend um die Stadt Mossul und im nahe gelegenen Sindschar-Gebirge. Wegen der Verfolgung unter Saddam Hussein sind viele Anhänger der Religion ins Ausland geflohen. Weltweit soll es nach Schätzungen rund 500.000 bis 800.000 Jesiden geben. Die Gemeinde in Deutschland - die größte in Europa - zählt nach Angaben des Zentralrats der Jesiden rund 60.000 Menschen. In Österreich sollen es rund 1.000 sein.

Der wichtigste heilige Ort der Religion liegt in Lalisch, einem abgelegenen Tal im Norden des Irak. Dort befindet sich das Grab von Scheich Adi, der im 12. Jahrhundert starb und unter den Jesiden große Verehrung genießt. Jedes Jahr im Herbst kommen Zehntausende Menschen zu einer Wallfahrt in das Tal.

Der „Engel Pfau“

Scheich Adi gilt im Jesidentum als Inkarnation von Melek Taus, dem „Engel Pfau“, als Pfau wird er auch bildlich dargestellt. Gemäß der jesidischen Mythologie wurde Melek Taus als einer von sieben Engeln von Gott geschaffen und mit der Schöpfung der Erde und von Adam und Eva beauftragt. Allerdings, so heißt es, habe er sich anschließend geweigert, vor Adam niederzuknien. Dafür sei er von Gott mit einer besonderen Position als Mittler zwischen Himmel und Erde beauftragt worden.

Die Weigerung, vor dem Menschen zu knien, führte im Lauf der Geschichte zu einer falschen Interpretation der jesidischen Lehren in Islam und Christentum. Denn dort ist die Geschichte vom gefallenen Engel, der sich weigert, vor Adam zu knien, jene der Entstehung des Teufels. Die Jesiden wurden und werden also - zu Unrecht, wie sie immer wieder betonen - als Teufelsanbeter gesehen. Tatsächlich gibt es im Jesidentum das Böse als eigene Entität überhaupt nicht, sondern nur im freien Willen des Menschen.

Exklusive Gemeinschaft

Zum schlechten Ruf der Jesiden in anderen Religionen dürfte auch die Exklusivität ihrer Gemeinschaft beigetragen haben. Jesiden missionieren nicht, als Jeside kann man nur geboren werden. Auch Eheschließungen mit Andersgläubigen sind nicht möglich - sie kommen einem Austritt aus der Glaubensgemeinschaft gleich. In den vergangenen Jahren wurde in diesem Zusammenhang auch immer wieder über angebliche Ehrenmorde und über die Ächtung von Frauen, die einen andersgläubigen Mann heirateten, berichtet.

Tempelanlage

Reuters/Shamil Zhumatov

Die Tempelanlage in Lalisch, das höchste Heiligtum der Jesiden

Die historischen Wurzeln des Jesidentums liegen weitgehend im Dunkeln. Fest steht lediglich, dass die Religion in ihrer heutigen Form wesentlich von Scheich Adi im 12. Jahrhundert geprägt wurde. Gleichzeitig herrscht aber auch Konsens darüber, dass es eine Gemeinschaft mit gleichem oder zumindest ähnlichem Namen schon lange zuvor gab.

Einige Wissenschaftler ziehen etwa Parallelen zum römischen Mithraskult und zum Zoroastrismus, es gibt aber auch deutliche christliche, muslimische und fernöstliche Einflüsse. Sicher ist, dass das Jesidentum eine streng monotheistische Religion ist. Die sieben Engel und vor allem Melek Taus spielen eine zentrale Rolle. Darüber hinaus glauben die Jesiden aber auch an die Wiedergeburt und leben nach einem strengen Kastensystem.

Zahlreiche Attentate

Der Sturz Saddam Husseins durch die von den USA angeführte Invasion 2003 verbesserte die Situation der Jesiden nicht. Im August 2007 töteten Extremisten zwischen 400 und 700 Menschen bei Attacken auf jesidische Dörfer in Nineveh. Seit dem rasanten Vormarsch von IS befinden sich die Jesiden - neben vielen anderen religiösen Minderheiten - auf der Flucht vor der Terrorgruppe. Viele waren nach der Eroberung von Mossul in Sindschar und anderen von Kurden kontrollierten Städten untergekommen, die nun ebenfalls unter Kontrolle der Islamisten stehen.

religion.ORF.at/APA/dpa/AFP

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