Papst spricht in Estland von „Versagen der Kirchen“

Papst Franziskus schließt am Dienstag mit einem eintägigen Besuch in Estland seine viertägige Reise durch die baltischen Staaten ab. Bei einem Jugendtreffen räumte der Papst ein institutionelles Versagen der Kirchen ein.

Die estnische Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid begrüßte Franziskus am Vormittag auf dem Flughafen von Tallinn. Nach dem zeremoniellen Empfang im Präsidentenpalais wandte sich der Papst in einer Ansprache an Vertreter und Vertreterinnen aus Politik und Gesellschaft. Papst Franziskus betonte dabei, dass Estland die Erinnerung an den Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit lebendig halten solle. Der erreichte Fortschritt verdanke sich der Mühe, der Arbeit, dem Geist und dem Glauben der früheren Generation, sagte Franziskus. Dazu verwies er auf das gute internationale Abschneiden Estlands bei Entwicklung, Pressefreiheit, Demokratie und politischer Freiheit.

Vatikan während Kommunismus „Quelle der Kraft“

Staatspräsidentin Kaljulaid erinnerte ihrerseits an den diplomatischen Rückhalt durch den Vatikan während der Zeit der sowjetischen Besatzung. So habe die Kirchenleitung den Posten des Bischofs für Estland ausdrücklich „aus politischen Gründen“ unbesetzt gelassen. Der Heilige Stuhl sei damals „eine Quelle spiritueller Kraft für die europäischen Länder in der Gefangenschaft des Kommunismus“ gewesen.

Papst Franziskus schüttelt der Präsidentin von Estland, Kersti Kaljulaid, die Hand

APA/AFP/Janek Skarzynski

Der Papst mit der estnischen Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid

Die Präsidentin sagte weiter, in einer Zeit raschen Wandels und wirtschaftlicher Entwicklung dürften die Schwächsten in der Gesellschaft nicht vernachlässigt werden. Wirtschaftlicher Erfolg verpflichte zur Sorge für andere.

Papst betont Wichtigkeit von Wurzeln

Papst Franziskus rief dazu auf, in der neuen Generation das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem Volk und einer Kultur lebendig zu halten. Wer junge Menschen dieser Wurzeln beraube, nehme ihnen „die Fähigkeit zu träumen, zu wagen, zu schaffen“.

„Es gibt keine schlimmere Entfremdung, als erfahren zu müssen, keine Wurzeln zu haben und zu niemandem zu gehören“, so der Papst. Ein Land könne nur in dem Maß fruchtbar sein und Zukunft schaffen, wie es Zusammengehörigkeit vermittle und „Bindungen zur Integration unter den Generationen und seinen verschiedenen Gemeinschaften“ hervorbringe.

„Riesenschritte“ seit Befreiung von Sowjets

Estland habe seit der Befreiung von sowjetischer Herrschaft „Riesenschritte“ vollzogen, sagte Franziskus. Allerdings sei Wohlstand „nicht immer bedeutungsgleich mit gut leben“.

Das Vertrauen in technologischen Fortschritt dürfe nicht die Fähigkeit zwischenmenschlicher, generationen- und kulturübergreifender Bindungen verkümmern lassen. Darin liege auch eine der wichtigsten Aufgaben von Verantwortungsträgern in Gesellschaft, Politik, Bildung und Religion.

Versagen der Kirche eingeräumt

Auf dem Programm des neunstündigen Aufenthalts in Tallinn standen auch ein ökumenisches Jugendtreffen in der lutherischen Karlskirche und der Besuch einer katholischen Sozialstation. Bei dem ökumenischen Jugendtreffen gestand der Papst institutionelles Versagen der Kirchen ein. Viele Jugendliche sprächen offen aus, dass Kirchenvertreter bei ihnen kein Gehör mehr fänden und ihre Glaubwürdigkeit verloren hätten. Auch seien sie empört über Missbrauchs- und Finanzskandale, sagte er am Dienstag in der lutherischen Karlskirche von Tallinn. Gastgeber des Treffens war der Erzbischof der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Andres Poder.

Franziskus sagte, allzu oft hätten sich die Kirchen in sich verschlossen und zu wenig zugehört. Den Kirchen wie auch „allen institutionellen Religionsgemeinschaften“ falle es oft leichter zu reden, als sich anfragen und belehren zu lassen. Zahlreiche junge Menschen erwarteten inzwischen nichts mehr von der Kirche, weil sie als Gesprächspartner für ihr Leben bedeutungslos geworden sei. Sie würden die Kirche „nicht als einen für ihr Leben bedeutsamen Gesprächspartner wahrnehmen“.

Kirche wolle offen und ehrlich sein

Jugendliche wendeten sich ferner ab, weil sie in der Kirche Kompetenz und ein Gespür für ihre Anliegen vermissten oder ihnen die Möglichkeit aktiver Teilhabe vorenthalten werde, sagte Franziskus. Diese Fragen wolle die im Oktober im Vatikan tagende Bischofssynode angehen, erinnerte der Papst. Die katholische Kirchenleitung wolle „transparent, offen, ehrlich, einladend, kommunikativ“ und zugänglich sein.

Als Grund für den Kontaktverlust der Kirche zur Jugend nannte Franziskus auch fehlende Authentizität der Seelsorger. Junge Menschen suchten einen Begleiter, der keine Angst vor der eigenen Schwäche habe, sagte er. Die Liebe Gottes sei nicht tot; „sie ruft und sendet uns; sie bittet nur, das Herz zu öffnen". Der Glaube könne nur angeboten, nicht aufgezwungen werden. Gott überrascht uns, weil das Leben uns überrascht. Gehen wir vorwärts, diesen Überraschungen entgegen“, sagte der Papst.

Nur 6.500 Katholiken und Katholikinnen in Estland

Estland ist die letzte Etappe der am Samstag begonnenen Baltikum-Reise, die den Papst zuvor nach Litauen und Lettland führte. Im Unterschied zu den anderen beiden Baltenstaaten gehört die Bevölkerungsmehrheit in Estland keiner Religionsgemeinschaft an. Die katholische Kirche zählt laut eigenen Angaben 6.500 Mitglieder unter den 1,3 Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen, das entspricht 0,5 Prozent. Die Protestanten und Protestantinnen stellen gemeinsam mit den Russisch-Orthodoxen die größten Konfessionen in Estland.

religion.ORF.at/KAP

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