Fußball-WM: NGOs setzen „Fairplay“ Kontrapunkte

Rund um die Fußballweltmeisterschaft möchten mehrere Initiativen mit Veranstaltungen auf die Kommerzialisierung und die unsozialen Begleiterscheinungen des Mega-Sportevents hinweisen.

Einen „fröhlichen Kontrapunkt zur Kommerzialisierung der Fußballweltmeisterschaft“ will die österreichische NGO-Fairplay-Initiative „Nosso Jogo“ setzen. In den kommenden Wochen wird in Wien zu mehreren „Alternativen Public Viewings“ eingeladen. „Fußball für alle“ lautet das Motto der Live-Übertragungen von vier WM-Vorrundenspielen an öffentlichen Plätzen im Rahmen des „VOLXkinos“, bei denen entsprechend auch der Eintritt frei ist und kein Konsumzwang besteht.

Santa Luzia Slum

REUTERS/Joedson Alves

Rund um die Stadien gibt es viele Slums, die dringend Infrastruktur benötigen würden

„Ungleichheit in der Gesellschaft wächst, wenn vielen Menschen die Teilhabe am Spektakel von Sportgroßereignissen verwehrt bleibt“, stellen die Veranstalter fest. Um dagegen aufzutreten, bietet das Rahmenprogramm der „Alternativen Public Viewings“ auch Kurzfilme und Diskussionen über „soziale und politische Aspekte des Fußballs“, neben Unterhaltung, Getränken, Kulinarik, Fußballturnieren, Microsoccer und Akrobatik, ist der Ankündigung zu entnehmen.

Das Mane Garrincha National Stadium in Brasilien

REUTERS/Ueslei Marcelino

Das Mane Garrincha National Stadium: Viel Geld wurde in die Errichtung neuer Sportstätten investiert

„Alternative Public Viewings“

Übertragen werden zunächst das Eröffnungsspiel Brasilien-Kroatien am 12. Juni mit Programm ab 17.30 Uhr (Schauplatz die Waggons im Marchfeldkanal, Ocwirkgasse 13), gefolgt am 17. Juni vom Zusammentreffen von Brasilien-Mexiko im Reithofferpark (Wien 15, ab 16.30 Uhr) und am 21. Juni ab 16 Uhr Deutschland-Ghana, das im „Macondo“ (Zinnergasse 29, Wien 11) zu sehen ist. Vorläufig letztes übertragenes Vorrunden-Spiel ist Kamerun-Brasilien am 23. Juni ab 19.30 Uhr, und zwar am Sportclub-Platz der Alszeile 19 (17. Bezirk).

„Die Fußball-WM sollte für alle in Brasilien da sein, sie ist es aber nicht“: Auch zwei Mädchen aus Rio de Janeiro, die im Rahmen der Kinderrechts-Initiative „Nosso Jogo - Unser Spiel“ derzeit zu Gast in Österreich sind, teilen die im WM-Veranstalterland sehr laut gewordene Kritik an den unsozialen Begleiterscheinungen des „Mega-Sportevents“.

„Es ist verrückt, wie viel Geld die Regierung in den Bau der Stadien und die WM steckt“, sagte die 14-jährige Jessica Adriane Santos Ferreira am Montag bei einer Pressekonferenz im ZOOM Kindermuseum in Wien. Dafür fehlten Mittel für Anschaffungen, die Brasilien viel dringender brauche: medizinische Versorgung, Bildungseinrichtungen, Infrastruktur.

„Wenn wir aber eine Operation brauchen, ist das fast unmöglich. In den Ambulanzen müssen wir ewig warten“, erzählte Jessica, die mit ihrer Mutter in der Favela Cerro Cora in Rio lebt und von einer Zukunft als Anwältin träumt. Wie ihre Mitreisende, die 12-jährige Kelly Regina Cruz Araujo, ist sie in das von der Dreikönigsaktion unterstütze Straßenkinder-Hilfsprojekt „SER“ (Se essa rua fosse minha, wörtl.: Wenn diese Straße meine wäre) eingebunden. „Als wir im Projekt zu den Kinderrechten arbeiteten, wurden einige richtig wütend. Denn wir merkten, was uns eigentlich vom Staat versprochen und bis jetzt nicht eingehalten wurde“, ärgert sich Jessica: „Warum gibt es dafür kein Geld?“

„Bei der WM wird das Volk vergessen“

Auch ihre Reisegefährtin Kelly ist pessimistisch, dass sich durch die WM in ihrem Leben etwas zum Besseren ändern wird - eher im Gegenteil: „In Brasilien läuft vieles nicht gut, und jetzt bei der WM wird das Volk vergessen.“ Sie würde sich z.B. wünschen, dass es in ihrem Viertel eine funktionierende Kanalisation gäbe und Busse und Züge in Rio genauso häufig und pünktlich führen wie in Österreich, wo „alles so toll organisiert“ sei. Kelly steht täglich um 3 Uhr früh auf, um es rechtzeitig zu den Vormittagsprogrammen von SER im Zentrum von Rio zu schaffen. Vier Stunden sei sie in eine Richtung unterwegs, „das macht mich schon sehr müde“.

Alternative zum Leben auf der Straße

Das Projekt SER der Dreikönigsaktion der Katholischen Jungschar bietet Kindern eine Alternative zum Leben auf der Straße und zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Jugendliche werden zu Multiplikatoren ausgebildet, die als Vorbild für andere zu sicheren, kreativen und sozialen Aktivitäten anleiten. Auch ein Zirkusprojekt ist in SER integriert, in dem die 12-jährige Kelly seit mehr als zwei Jahren ihrer Leidenschaft für Einrad und Trapez frönt.

Slums in Brasilien

Jugend eine Welt

In den Slums ist kaum etwas von den Investitionen der Regierung in die neuen Sportstätten zu spüren. Hier würden sich viele statt dessen dringend Krankenhäuser und Schulen wünschen

Die Dreikönigsaktion ist wie „Jugend Eine Welt“, Kindernothilfe und Kinderfreunde Trägerin der Kampagne „Anpfiff für Kinderrechte!“, die Kinderrechtsverletzungen im Zuge der FIFA-Fußball-WM 2014 und Olympia 2016 in Brasilien aufzeigt und für eine Stärkung des Rechts auf Spiel weltweit eintritt. Noch bis zu, 11. Juni gibt es dazu im Zoom Kindermuseum im Wiener Museumsquartier ein abwechslungsreiches Programm für Kinder von 6 bis 12 Jahren. Schulklassen, aber auch einzelne Kinder bekommen Gelegenheit zur Beschäftigung mit dem oft schwierigen Lebensalltag von Kindern und Jugendlichen im WM-Gastgeberland. Sie sind besonders von den Einsparungen im Sozialbereich, der vermehrten Gewalt und den Zwangsräumungen betroffen.

Bischof Kräutler: Nach dem WM-Jubel wartet Katerstimmung

Brasilien steht in den Augen von Bischof Erwin Kräutler ein böses Erwachen nach der WM bevor: Im Gegenzug für die WM-Ausgaben würden bald „Milliarden“ im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich fehlen - „und nach dem Jubel eines möglichen neuerlichen Weltmeisterschaftstitels kommt dann die Katerstimmung. Die grausame und ungerechte Realität umfängt uns wieder“, so der aus Vorarlberg stammende Bischof der Amazonas-Diözese Xingu, der sich derzeit in Österreich aufhält, im Interview mit der „Kleinen Zeitung“.

Im Blick auf die meist friedlichen Demonstrationen rund um die Fußball-WM begrüße er es, „wenn junge Leute auf die Straße gehen, um das wahre Antlitz Brasiliens bloßzulegen“, so der 2010 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnete Bischof. Millionen Brasilianer würden die Geschehnisse im Vorfeld der WM als „katastrophalen Unfug“ bezeichnen, denn „Milliarden wurden und werden in den Bau von Stadien und Infrastruktur hineingebuttert, um den FIFA-Anforderungen gerecht zu werden“. Absehbar sei, dass viele der Stadien später bloß „weiße Elefanten“ seien, da es außerhalb der WM in der Mehrzahl der neuen Spielstätten nicht genügend Besucher gebe.

Unterstützung signalisierte der Bischof für die Forderungen vieler Brasilianer nach „FIFA-Standards“ für Spitäler, Gesundheitsposten, Schulen, Universitäten, Transport und öffentliche Sicherheit. Kräutler wörtlich: „Solange es für Kinder nicht einmal anständige Schulbänke gibt, Kranke in Spitalsgängen auf dem Boden liegen oder in langen Warteschlangen vor einem Gesundheitsamt tot umfallen, Arbeiter und Angestellte tagtäglich stundenlang in Bussen wie in Sardinendosen eingepfercht zum Arbeitsplatz fahren müssen, ist es ein Skandal, Milliarden für Fußballstadien hinauszuschmeißen.“

Fußball-WM: Warnung vor sexueller Ausbeutung

Katholische Frauenorden haben vor Beginn der Fußball-WM in Brasilien vor sexueller Ausbeutung, Menschenhandel und Kinderprostitution gewarnt. Vor allem die Prostitution von Minderjährigen sei ein riesiges Problem, erklärte die Hilfsorganisation Jugend Eine Welt.

„Es gibt keine offiziellen Zahlen, auch weil die Prostitution von Minderjährigen streng verboten ist. Aber das Nationale Forum gegen Kinderarbeit hat die Anzahl der Kinderprostituierten bereits 2012 auf fast eine halbe Million geschätzt“, erklärte Jugend Eine Welt-Vorsitzender Reinhard Heiserer. „Wir befürchten, dass es durch die WM zu einer Zunahme sexueller Gewalt gegen Kinder kommen wird.“ Bei den vergangenen beiden Weltmeisterschaften in Südafrika und Deutschland sei die sexuelle Ausbeutung um 30 bis 40 Prozent gestiegen.

Laut Tiana Sento-Se, Vertreterin der brasilianischen Kinderrechtsorganisation ECPAT, machen sich viele Mädchen Illusionen: „Sie bemühen sich Englisch zu lernen und träumen vom großen Geld. Manche hoffen auf eine Heirat mit einem reichen Ausländer, der sie nach der WM mit nach Europa nimmt.“ Die Situation sei jedoch je nach Landesteil unterschiedlich. Während z.B. in Rio der „Babystrich“ so gut wie unsichtbar sei, würden im besonders armen Nordosten des Landes immer wieder Minderjährige am Straßenrand angetroffen.

Miriam Jose dos Santos, Präsidentin des Nationalen Kinderrechtsrates, befürchtete außerdem, „dass Kinder während der WM außer Landes gebracht werden“. Diese Gefahr würde insbesondere im Amazonasgebiet bestehen, wo es innerhalb des großen Regenwaldes kaum Kontrollen gibt.

Brasiliens Kirche für Gewalt-Stopp

Brasiliens Bischöfe appellieren, während der Fußball-WM von Gewalt jeder Art - „in den Stadien und außerhalb“ - Abstand zu nehmen. Der Appell, unterzeichnet vom zuständigen „Sportbischof“ Dom Paulo Mendes Peixoto, wurde am Freitag auf der Website der Bischofskonferenz (CNBB) veröffentlicht. „Wir müssen jetzt unsere Differenzen überwinden und unsere Kräfte für den Aufbau des Guten kanalisieren“, so Erzbischof Peixoto.

Der Erzbischof räumte ein, dass es berechtigten Unmut über die hohen Ausgabe, die Großverdiener an der WM und die Vernachlässigung des Sozialsektors gebe. Doch es dürfe jetzt nicht dazu kommen, dass durch Gewalt Schlimmeres geschehe oder das Land seine Zielrichtung verliere und abgleite. „Halten wir die Daumen für eine Weltmeisterschaft des Friedens und des Sieges derjenigen, die am besten vorbereitet sind“, appellierte Peixoto.

Starke Kritik an der WM hatten Brasiliens Bischöfe vor einem Monat mit einem Folder „Copa do Mundo - Dignidade e Paz“ (Weltmeisterschaft - Würde und Friede) geäußert. In der in drei Sprachen gedruckten Info-Broschüre vergab die Bischofskonferenz „Rote Karten“ wegen WM-bedingter Enteignungen, der Verschwendung öffentlicher Gelder sowie der Privatisierung des Sports. Die Broschüren sollen während des am kommenden Donnerstag beginnenden Turniers verteilt werden.

„Rote Karte“ für Regierung

Unter der Überschrift „Rote Karte“ werden insgesamt acht Kritikpunkte aufgelistet, darunter Verstöße gegen die Menschenrechte. Die Bischöfe lieferten zugleich eine Aufstellung möglicher „Siegtore“, die die Regierung während des Großereignisses erzielen könnte. Dazu gehört etwa, das Demonstrationsrecht auch während der WM zu respektieren, zivilgesellschaftliche Organisationen nicht zu kriminalisieren und auf Enteignungen armer Familien zu verzichten.

In der auf Portugiesisch, Englisch und Spanisch gedruckten Broschüre verpflichtet sich die Kirche selbst, als Vermittlerin zwischen Sozialbewegungen und der Regierung zu wirken und von der WM negativ Betroffene wie etwa Obdachlose zu begleiten.

religion.ORF.at/KAP/APA

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