Russlands Präsident Wladimir Putin überreicht dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill einen Blumenstrauß, November 2021
APA/AFP/Mikhail Metzel
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Russland

Die enge Verzahnung von Kirche und Staat

Das Moskauer Patriarchat und der russische Staat sind eng verbunden. Die Stellungnahmen Patriarch Kyrills dieser Tage zum Krieg in der Ukraine machen das deutlich. Die Hintergründe dieses Staat-Kirche-Verhältnisses und welche Konflikte es mit sich bringt, erklärt die Religionssoziologin Kristina Stoeckl gegenüber religion.ORF.at.

Der Patriarch von Moskau und Vorsteher der russisch-orthodoxen Kirche (ROK), Kyrill, ist einer der wenigen Geistlichen, die den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht verurteilten. Dass er von den Gegnern Russlands als „Kräfte des Bösen“ sprach und die russischen Soldaten wiederholt zum Kampf aufrief, sorgte für heftige Kritik in theologischen Kreisen. Der reformierte Theologe Ulrich Körtner warf ihm gar „Verrat am Evangelium“ vor.

Die enge Verzahnung von Religion und Staat in Russland reiche weit zurück, sagt Stoeckl. Vieles von dem, was man jetzt sehe, habe seine Ursprünge in einer „politischen Theologie, die das Moskauer Patriarchat vorgelegt hat, die wir jetzt politisch umgesetzt und am Werk sehen. Die Kirche kann diese Geister nicht mehr stoppen.“

Die Mär der einen russischen Identität

Wie die Religionssoziologin erklärt, sei das Konzept „Russki mir“ („russische Welt“) zentral, um den derzeitigen Konflikt zu verstehen. „Russki mir“, ursprünglich ein Kulturkonzept, geht davon aus, dass die russische Sprache, Literatur und auch die russische Orthodoxie eine besondere soziale Bindungskraft besitzen. Im Hintergrund steht die Annahme einer gemeinsamen ostslawischen Identität. Der Raum von „Russki mir“ werde meist als sakraler, christlicher Raum oder im engeren Sinne als Raum russischer Orthodoxie verstanden.

Gerade die Ukraine spielt für das Moskauer Patriarchat eine zentrale Rolle, gilt sie und vor allem die Krim doch als Ursprungsort der russischen Orthodoxie. Wie Stoeckl erklärt, wird das auf das Jahr 988 zurückgeführt, als sich Prinz Wladimir auf der Krim zum Christentum bekehrte und sich taufen ließ. Wladimir gilt als einer der bedeutendsten Fürsten des mittelalterlichen Großreichs Kiewer Rus und Initiator der Christianisierung der Region. Das Moskauer Patriarchat ist daher davon überzeugt, dass die Ukraine und Russland kirchenrechtlich zusammengehören.

Das Oberhaupt der ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK-MP), Metropolit Onufrij
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Das Oberhaupt der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK-MP), Metropolit Onufrij

Orthodoxe Kirchen in der Ukraine

In der Ukraine gibt es zwei orthodoxe Kirchen: die von Metropolit Onufrij (Beresowskyj) geleitete Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK-MP) und die eigenständige Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) mit Metropolit Epifanij (Dumenko) an der Spitze.

Auch deshalb kritisierte Kyrill die Gründung und Anerkennung der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) 2018. Dass er sie zudem als Versuch westlicher politischer Kräfte bezeichnete, „die Ukrainer und die in der Ukraine lebenden Russen umzuerziehen, sie mental zu Feinden Russlands zu machen“, erkläre sich mit Blick auch auf die Idee der „Politik der traditionellen Werte“.

„Politik der traditionellen Werte“

Die „Politik der traditionellen Werte“ geht davon aus, dass Russland Verteidigerin von konservativen (vermeintlich) christlichen Werten ist, der Westen das feindliche Gegenüber. Besonders häufig wurden die „besonderen Werte Russlands“ in den letzten Jahren im Kontext von Diskussionen über LGBTQ, häusliche Gewalt und auch politische Konflikte ins Feld geführt.

Wie Stoeckl erklärt, waren sowohl das Konzept „Russki mir“ als auch die „Politik der traditionellen Werte“ ursprünglich theologische Konzepte, die nach und nach Eingang in die russische Politik gefunden hätten. Heute nutzt Präsident Wladimir Putin sie, um den russischen Einfluss im postsowjetischen Raum zu legitimieren.

Kirche und Nationalismus

Das Naheverhältnis zwischen Moskauer Patriarchat und russischem Staat zeigte sich auch in der im Jahr 2000 von ihm veröffentlichten Sozialdoktrin. Darin heißt es, dass die Kirche nationalistisch ist und sein soll: „Der Patriotismus des orthodoxen Christen soll tätig sein. Er äußert sich in der Verteidigung des Vaterlandes gegen den Feind.“

Weiter heißt es darin, dass es Gebiete gebe, „in denen die Geistlichen und die kanonischen kirchlichen Organe gehalten sind, dem Staat ihre Mitarbeit zu verweigern“, etwa im Fall von aggressiven oder Bürgerkriegen. Das erklärt, warum mit Blick auf die Ukraine die Bezeichnung des Krieges als Angriffskrieg vonseiten des Moskauer Patriarchats abgelehnt wird. Denn in diesem Fall wäre die Befürwortung oder Verteidigung dieses Krieges auch für das Moskauer Patriarchat nicht mehr möglich.

„Keine Vision von Kirche ohne Staat“

Stoeckl gibt zu bedenken, dass eine andere Entwicklung des Kirche-Staat-Verhältnisses in Russland möglich gewesen wäre: „Denn wir müssen uns daran zurückerinnern, dass in den 70 Jahren der kommunistischen Herrschaft die russisch-orthodoxe Kirche vom sowjetischen Staat unterdrückt wurde.“ Mit dem Ende der Sowjetherrschaft hätte es die Möglichkeit und habe es auch Versuche gegeben, das Verhältnis von Kirche und Staat neu zu definieren und die russisch-orthodoxe Kirche als mögliche Gegenkraft zu politischen Entwicklungen zu positionieren.

Dass das nicht geschehen ist, liege auch an Kyrill. Seit er 2008 Patriarch wurde, sei das Verhältnis zwischen dem Kreml und dem Patriarchat sehr viel enger geworden, sagt Stoeckl. Ein Grund dafür ist Stoeckl zufolge, dass Kyrill selbst als „Teil der von den Sicherheitsapparaten (KGB) dominierten Kirche ausgebildet worden ist“. Vor allem aber habe es damit zu tun, dass Kyrill selbst „gar keine Vision von Kirche hat, die nicht am Staat hängt“.

Kirche und Militär

Aufgrund der Coronavirus-Pandemie sei in Westeuropa wenig beachtet worden, dass 2020 eine große Kathedrale der russischen Streitkräfte am Stadtrand von Moskau eingeweiht wurde, sagt Stoeckl. Ebenso wie in Waffensegnungen durch Kyrill manifestiere sich darin das Naheverhältnis des Moskauer Patriarchats zum russischen Militär.

FILE PHOTO: Russia’s President Vladimir Putin, Defence Minister Sergei Shoigu and Patriarch Kirill of Moscow and All Russia attend a flower-laying ceremony outside the newly constructed Resurrection of Christ Cathedral, the main Orthodox Cathedral of the Russian Armed Forces, near Moscow, Russia June 22, 2020. Sputnik/Alexei Nikolsky/Kremlin via REUTERS  ATTENTION EDITORS – THIS IMAGE WAS PROVIDED BY A THIRD PARTY./File Photo
Reuters/ Sputnik/ Alexei Nikolsky/ Kremlin
Putin und Kyrill vor der Kathedrale der russischen Streitkräfte

Wie das Verteidigungsministerium Russlands bei der Einweihung mitteilte, soll die fast hundert Meter hohe Kathedrale an den sowjetischen Sieg über die Nazis erinnern. Aber auch andere „Heldentaten des russischen Volkes“ würden gepriesen, etwa die „Übernahme der Krim durch Russland“, so das Ministerium. Für die Stufen des Glockenraums seien eingeschmolzene Teile von deutschen Panzern und Kampfflugzeugen verwendet worden.

Vorteile, die keine sind

Putin habe seit 2012 „voll auf eine slawisch-orthodoxe, traditionalistische Linie gesetzt, um ideologischen Konsens im Land zu erzielen“, so Stoeckl. Dafür brauche und nutze er die Kirche. „Es ist also ein Verhältnis gegenseitiger Vorteile und Abhängigkeiten.“ Die Vorteile würden nicht von allen als solche gesehen.

Gerade mit Blick auf den Krieg in der Ukraine äußerte sich auch die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK-MP) von Beginn an kritisch. Die UOK-MP verurteilte den Krieg von Anfang an und rief zum Frieden auf. Widerspruch gebe es aber auch innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche in Russland selbst. Wie Stoeckl erklärt, sind die kritischen und liberalen Priester der russisch-orthodoxen Kirche jedoch "in einer dramatischen Situation. „Sie sind bedroht und verstummt.“

Verbot für Priester, politisch zu agieren

In der im Jahr 2000 veröffentlichten Sozialdoktrin wird die russisch-orthodoxe Kirche „grundsätzlich ‚unpolitisch‘“ genannt. Als Folge verbiete sie Priestern zum Beispiel, sich politisch zu engagieren, so Stoeckl: „Diese Haltung wird immer wieder ins Feld geführt, wenn Priester gegen die Regierung protestieren, sie werden dann als ‚politisch‘ kritisiert. Das ist natürlich hochgradig hypokritisch, denn der Patriarch selbst agiert ja durchaus politisch. Gleichzeitig ist dieses Argument der Neutralität aber auch immer der Grund dafür, dass die Kirche sich dem Staat einfach unterordnet.“

„Endkampf gegen das Böse“

Das Moskauer Patriarchat verstehe sich grundsätzlich als in einer Welt, die eschatologisch dem Ende zugeht, sagt Stoeckl. Dahinter steht die religiöse Vorstellung, dass das Ende nicht das Ende der Zeit bedeutet, sondern eine Wende der Zeit, die zur Vollendung der Schöpfung führt. „Und in diesem Endkampf hat die Orthodoxie eine Rolle, dem Bösen zu widerstehen. Das ist eine Weltsicht, die es immer schon gibt, die aber aktuell auf die Situation in der Ukraine angewandt wird.“

„Patriarch Kyrill hat die russisch-orthodoxe Kirche an den Staat gebunden auf Gedeih und Verderben. Er hat dadurch innerhalb der Weltorthodoxie Autorität und moralischen Status eingebüßt, wahrscheinlich für immer oder zumindest für seine Lebenszeit“, so Stoeckl. Was danach mit dem Moskauer Patriarchat passiert, sei schwer zu sagen.