„Dignitas infinita“

Vatikan-Dokument: Theologen sehen „Licht und Schatten“

Licht und Schatten sehen heimische Theologinnen und Theologen im neuen Vatikan-Dokument „Dignitas infinita“ über die Würde des Menschen. Von einem „Dokument von wechselnder Qualität“ spricht etwa der Wiener Moraltheologe Gerhard Marschütz in einem Beitrag in den dieswöchigen Ausgaben der heimischen Kirchenzeitungen (Mittwoch).

Vieles am Dokument wirke eher wie ein „hilfloser Appell“ denn wie eine „solide Argumentation“, befindet der Linzer Moraltheologe Michael Rosenberger auf Anfrage der katholischen Nachrichtenagentur Kathpress.

Von einem „ausgewogenen Dokument“ schreibt der St. Pöltner Moraltheologe Josef Spindelböck in einer Stellungnahme gegenüber Kathpress. Das Thema der Menschenwürde und der damit verbundenen Rechte und Pflichten sei grundlegend. Drängende Fragen der Gegenwart würden behandelt. Das Dokument hätte aber etwas selbstkritischer sein können, „da die konkrete Kirche leider dem Auftrag Jesu, Anwalt der Würde des Menschen zu sein, nicht immer entsprochen hat“.

Thema Gender

Die Salzburger Moraltheologin Angelika Walser stellt auf Kathpress-Anfrage hin positiv heraus, dass im neuen Dokument die verschiedenen Bedeutungsebenen der Menschenwürde herausgearbeitet werden. Im Bereich einzelner konkreter Themen werde diese Unterscheidung aber nicht durchgehalten, so die Theologin, u. a. mit Verweis auf die in „Dignitas infinita“ enthaltenen Passagen zum Thema Gender.

Marschütz: Wenig differenziere Argumente

Der fünfjährige Reifungsprozess des Textes zeige sich in der Differenziertheit so mancher Klärungen im Text, befindet Prof. Marschütz in seinen Ausführungen für die Kooperationsredaktion der österreichischen Kirchenzeitungen positiv. So werde etwa die Würde, die allen Menschen gleichermaßen zukommt, also „jenseits aller Umstände“, unterschieden von der sittlichen, sozialen und existenziellen Würde, die auch erworben oder verloren werden kann.

Abgegrenzt werde die Menschenwürde zudem gegenüber der Personwürde, sofern hier mit Person lediglich ein „vernunftbegabtes Wesen“ verstanden wird und demnach etwa das ungeborene Kind oder jemand mit geistiger Behinderung keine Würde samt entsprechender Rechte hätte.

Erklärung „verweigert Diskurs“

Weniger differenziert argumentiere die Erklärung im Blick auf eine vermeintlich „willkürliche Vermehrung neuer Rechte“, welche als missbräuchliche Verwendung des Begriffs der Menschenwürde kritisiert wird. Konkret gehe es dabei vor allem um reproduktive Rechte (Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch, Reproduktionstechnologien), das Recht, über den eigenen Tod bestimmen zu können (assistierter Suizid, Euthanasie), und um die Rechte von LGBTIQ-Personen.

Marschütz: „Dem diesbezüglich in den letzten Jahrzehnten in westlichen Gesellschaften breit und intensiv geführten Diskurs verweigert sich die Erklärung weitgehend und propagiert stattdessen vorwiegend die katholische Echokammer.“ Der vierte Teil, welcher diverse problematische Situationen und Verstöße gegen die Menschenwürde aufgreift, sei daher von „abwechselnder Qualität“. Speziell die Ausführungen zur Gender-Theorie und Geschlechtsumwandlung ließen „jenes Niveau vermissen, das als Denkanstoß für ein weiteres Nachdenken im säkularen Diskurs relevant sein könnte“.

Deutlich werde jedoch angesichts der genannten Situationen, „wie vielfältig bedroht die Menschenwürde ist, auch in der digitalen Welt, die der Text als letzten Themenbereich benennt“, so Marschütz.

Rosenberger: „Hilfloser Appell“

Kritisch äußerte sich der Linzer Moraltheologe Rosenberger zu „Dignitas infinita“. Es sei zwar an sich zu begrüßen, dass der Vatikan an den hohen Wert der Würde aller Menschen erinnere, allerdings unterlaufe das Dokument die aktuellen Begründungsdebatten und es entwerte durch inflationären Einsatz gleichsam den Gegenstand, den es doch hervorheben möchte. Vieles wirke eher wie ein „hilfloser Appell“ denn wie eine „solide Argumentation“ so Rosenberger in einer ersten Reaktion gegenüber Kathpress.

In der modernen Ethik kommt der Menschenwürde der Status des höchsten Arguments zu – entsprechend gründlich sollten nicht nur Begründungen, sondern auch Anwendungsformen dieses Arguments bedacht werden. Beides leiste das Dokument nicht, so Rosenberger. Er erinnert etwa daran, dass sich das deutsche Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung nur bei sehr wenigen Urteilen auf Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes bezieht (in dem die Unantastbarkeit der Menschenwürde festgehalten ist).

„Dignitas infinita“ hingegen versuche, „nahezu alle aktuellen ethischen Herausforderungen mit der Menschenwürde zu erklären“. Dies entwerte jedoch „die Kostbarkeit des Arguments“ und erhöhe die Gefahr, „dass dessen Glaubwürdigkeit am Ende unter die Räder gelangt“. Damit jedoch wäre „dem Anliegen des Schreibens letztlich ein Bärendienst erwiesen“, schlussfolgert der Linzer Theologe in seiner Stellungnahme.

Spindlböck: „Positiver Impuls“

Für den St. Pöltner Moraltheologen Spindelböck macht das Dokument „Dignitas infinita“ insgesamt einen „ausgewogenen Eindruck“. Man könne auf fünf Jahre intensiver Vorbereitung und breiter interner Diskussion zurückblicken. Es sei insofern das Ergebnis eines synodalen Vorgangs. Daher sei zu erwarten, so Spindelböck, „dass es innerkirchlich besser rezipiert wird als die Erklärung ‚Fiducia supplicans‘“.

Drängende Fragen der Gegenwart in Bezug auf den Schutz des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum Tod – Abtreibung, Leihmutterschaft, Euthanasie und assistierter Suizid – würden im Lichte der christlichen Anthropologie behandelt. Die oft infrage gestellte geschlechtliche Identität des Menschen in der Zuordnung von Mann und Frau werde bekräftigt und damit auch die wahre Natur von Ehe und Familie in Erinnerung gerufen, betont Spindelböck.

Gewissens- und Religionsfreiheit „zentral“

Fragen der individuellen und sozialen Entwicklung würden thematisiert, gerade auch im Kontext von Armut und Wohlstand. Es gehe um einen Aufruf zu einem solidarischen Miteinander und um die Vermeidung und Beendigung von gewaltsamen Auseinandersetzungen und Kriegen. Probleme der Migration, das Unrecht des sexuellen Missbrauchs und der Gewalt gegen Frauen sowie der Menschenhandel würden klar angesprochen. Die Achtung der Gewissens- und Religionsfreiheit sei zudem zentral, „da weltweit viele Christen und andere Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugungen verfolgt werden“.

Der positive Impuls, der vom Dokument ausgeht, sei wichtig und sollte mittel- und langfristig fruchtbar gemacht werden, „indem man sich die Inhalte aneignet und sie angesichts der jeweiligen Herausforderungen konkretisiert“. Der Beitrag aller Christen sei hier unverzichtbar. Zugleich aber sei „Dignitas infinita“ ein Bezugspunkt für den ökumenischen und interreligiösen Dialog, zeigt sich Spindelböck überzeugt, „da prinzipiell jeder Mensch auf der Grundlage seiner Vernunfteinsicht die menschliche Würde in Freiheit anerkennen kann und soll, was freilich durch den christlichen Glauben noch vertieft wird“.

Walser: „Identitätspolitischer Diskurs“

Differenziert, gleichwohl überwiegend kritisch, präsentiert sich die Einschätzung der Salzburger Moraltheologin Walser. Anerkennung zollte sie für die Differenzierungen im ersten Teil des Vatikan-Dokuments, wo unterschiedliche Bedeutungsebenen (ontologisch, sittlich, existenziell, sozial) der Menschenwürde unterschieden werden. Das sei durchaus hilfreich, so Walser in ihrer Stellungnahme gegenüber Kathpress, um herauszustreichen, auf welcher Basis die Kirche Menschenwürde als inhärent und an keinerlei Bedingungen geknüpft verteidigt.

Zugleich jedoch zeige sich im Bereich der Konkretisierungen im Dokument, dass diese feine Unterscheidung der Ebenen nicht durchgehalten werde – insbesondere etwa bei der durchwegs kritischen Haltung des Dokuments zum Thema Gender. „Das ist der übliche identitätspolitische Diskurs, der hier vorgeführt wird“, so die Moraltheologin.

Komplexität der Debatte unterlaufen

Es werde die Komplexität der Debatte unterlaufen, „es werden keine Belege angeführt, nicht gesagt, welche Theorie man eigentlich meint“ – es gebe „unwissenschaftliche pauschale Anschuldigungen und kein Bewusstsein für humanwissenschaftliche Befunde.“ Das alles sei „sehr schade“, da das Dokument eben eigentlich mit den verschiedenen Ebenen der Anwendung des Würdebegriffs durchaus ein Instrumentarium zur Hand hätte, um diese Fragen differenzierter zu behandeln.

Irritiert zeigt sich Walser auch davon, dass das Dokument „wie viele kirchliche Dokumente keinerlei Geschichtsbezug kennt“ und so tue, als habe sich die Kirche „von Beginn ihrer Sendung an stets aktiv für die Menschenrechte eingesetzt“. Das sei jedoch nicht der Fall, zeigt Walser etwa am Beispiel der kirchlichen Haltung der Würde der Frau gegenüber auf. „Oft ist die Kirche da säkularen Diskursen hinterhergehinkt – und hat damit auch Schuld auf sich geladen. Das wird im Text aber alles nicht erwähnt – was schade und eine vertane Chance ist.“

Kirchenreformgruppen zu „Dignitas infinita“

Der Zusammenschluss österreichischer Kirchenreformgruppen „kirchenreform.at“ begrüßten derweil am Mittwoch, dass der Vatikan in seiner Erklärung die grundsätzliche und absolute Würde des Menschen in Erinnerung ruft, die heute in vielfältiger Weise bedroht und verletzt wird. Es stelle sich aber die Frage, „ob ein Dokument wie dieses, an dem im Vatikan laut eigenen Angaben fünf Jahre lang gearbeitet wurde, nicht auch die Möglichkeit geboten hätte, nach der menschlichen Würde im Inneren der Kirche selbst zu forschen“, heißt es in einer Aussendung. Angesprochen werden etwa sexueller Missbrauch in der Kirche oder die „Marginalisierung“ und „Diskriminierung“ von Frauen.

Auch im Hinblick auf die Ausführungen zur „Gender-Theorie“ bleibe man nach der Lektüre des vatikanischen Dokuments „fast etwas ratlos zurück“. Hier brauche es u. a. mehr Wissenschaftlichkeit, wird in der gemeinsamen Aussendung von „Wir sind Kirche“, „Pfarrerinitiative“, „Priester ohne Amt“ und „Laien-Initiative“ festgehalten.