Lebenskunst 25.12.2020, Magdalena Holztrattner

Bibelessay zu Exodus 22,20-26

Schämst Du Dich nicht? Schämst Du Dich nicht, dass Du Menschen ausnützt und schlecht behandelst und finanziell in die Knie zwingst?

Schämst Du Dich nicht, dass Du Menschen ausnützt, schlecht behandelst und finanziell in die Knie zwingst, die zu Deinem Volk gehören, die Deine Mitbürger sind, denen es jetzt gleich geht, wie es Dir früher gegangen ist, als Du selbst fremd und schwächer als die anderen warst?

Magdalena Holztrattner
ist Theologin, Sozialethikerin und Direktorin der Katholischen Sozialakademie Österreichs

Cantus firmus für Fremde, Witwen, Waisen und Arme

Schämst Du Dich nicht? So könnte die Überschrift zu dieser Bibelstelle aus dem sogenannten Alten oder Ersten Testament lauten. Es sind Deine Geschwister, mit denen Du so gnadenlos umgehst, so der Cantus firmus, die Hauptaussage der Textstelle.

Geschwister? Warum sollen diese genannten Menschen meine Geschwister sein? – könnten sich die Angesprochenen fragen. Der Gott, von dem die Bibel erzählt, wirft sich hier ins Zeug, deutlich gemacht mit drastischer Sprache von den Autoren des im ersten Jahrtausend vor Christus verfassten Buches, Gott selbst wirft sich also ins Zeug, wenn es darum geht, Fremde zu schützen, die ausgebeutet werden. Gott selbst wirft sich hier ins Zeug, wenn es darum geht aufzuzeigen, wo rechtlose Menschen oder jene, die sich keine gute Rechtsanwältin leisten können, juristisch über den Tisch gezogen werden. Zu biblischen Zeiten waren das die Gruppe der Witwen und Kinder, die keinen männlichen Verwandten hatten, der sie vor Gericht vertreten konnte.

Umgang der Menschen miteinander

Gott selbst wirft sich hier ins Zeug, wenn es darum geht, die würgenden Folgen von Zinsnahme bei jenen aufzuzeigen, die sprichwörtlich nur mehr einen Mantel haben, während andere aus ihrer finanziellen Not Gewinn ziehen. Warum aber, so könnten manche einwenden, soll man nicht die Arbeitskräfte jener nutzen, die von anderswo ins Land gekommen sind? Warum soll ich nicht mit einem teureren, besseren Anwalt mein Recht erkämpfen? Warum soll ich nicht Zins nehmen, wenn ich Geld verleihe, das ich selbst durch harte Arbeit verdient habe? Weil, so die biblische Antwort Gottes, Du selbst Dich an Deine oder die Geschichte Deiner Vorfahren erinnern solltest: Du warst fremd, heißt es da.

Lebenskunst
Sonntag, 25.10.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Weil, so der Einwand Gottes, es den Dir liebsten Menschen ebenso ergehen könnte: Auch sie können Witwen und Waisen werden, rechtlos und der Gunst anderer vollständig ausgeliefert. Weil, so die barmherzige Rechtfertigung Gottes, ich selbst Mitleid mit jenen habe, die von ihren Geschwistern ausgebeutet werden. Geschwister? Warum sollen diese genannten Menschen meine Geschwister sein? Weil, wie der Bischof von Rom, der den Namen Franziskus gewählt hat, in seiner jüngsten Sozialenzyklika „Fratelli tutti“, schreibt, alle Menschen als von Gott Geschaffene Geschwister sind.

Wenn aber der Mensch sich als Kind Gottes und seine Mitmenschen als Geschwister versteht, wird er oder sie vom Bruder keinen Wucherzins verlangen, die Schwester bei Gericht nicht über den Tisch ziehen und die Fremden im Land nicht wie Menschen zweiter oder dritter Klasse behandeln. Geschwisterlichkeit ist der Cantus firmus der neuen Sozialenzyklika von Papst Franziskus. Geschwisterlichkeit ist der Cantus firmus dieser Bibelstelle. Geschwisterlichkeit sollte auch der Cantus firmus sein, der den Umgang der Menschen miteinander prägt.