Lebenskunst 13.12.2020, Josef Schultes

Bibelessay zu Jesaja 61,1-2a.10-11

Ein Abschnitt aus Jesaja. Das Buch, das seinen Namen trägt, ist mir das liebste der Heiligen Schrift. Gerne, fast zärtlich nehme ich es zur Hand und lese mich ein in seine inspirierten und inspirierenden Texte, oft im hebräischen Original.

Manche Sätze kenne ich auswendig oder zutreffender: inwendig, by heart. Über 20 Jahre lang stand Jesaja im Zentrum meiner Adventseminare, zuerst im Bildungshaus St. Virgil in Salzburg, dann im Kurhaus Marienkron in burgenländischen Mönchhof. Jesaja ist der Maßgebende unter den Nebiim, unter den Propheten des Alten, des Ersten Testaments. Eine Perle, ein kostbarer Schatz, „spirituelles Weltkulturerbe“!

Josef Schultes
ist katholischer Theologe und Bibelwissenschaftler

Bibliothek prophetischer Worte

Das Buch Jesaja ist kein literarisches Werk, das eine einzelne Person verfasst hat. Vielmehr eröffnet sich darin eine ganze „Bibliothek prophetischer Worte und Taten“, über Jahrhunderte gesammelt, auf 66 Kapitel und fast 1300 Verse angewachsen. Die eben gehörten 4 Verse stehen im letzten Teil des Buches, der in der Fachwelt als Trito-Jesaja, als Dritter Jesaja bezeichnet wird. „Von Herzen freue ich mich am HERRN“, heißt es da, „meine Seele jubelt über meinen Gott“. „Gaudens gaudebo in Domino“, lautet diese Zeile in der Vulgata, in der lateinischen Bibelübersetzung, „et exultabit anima mea in Deo“. Eindeutig, weshalb diese Schriftstelle für den 3. Adventsonntag ausgewählt wurde, der ja GAUDETE genannt wird. Seine liturgische Farbe in der katholischen Kirche ist Rosa, im übrigen Advent Violett. „Semper gaudete“, „freut euch zu jeder Zeit“ verstärkt auch der 1. Thessalonicherbrief das Programm der heutigen Lesungen in katholischen Kirchen.

Freude nach Programm?

Keine einfache Sache im bedrängten Advent des Jahres 2020. Keine einfache Sache aber auch schon zu jener Zeit, als der Dritte Jesaja auftritt. Viel an Aufbau ist zu leisten, Schwerarbeit steht an, außen und innen. Ein Neubeginn in Jerusalem nach Jahrzehnten der Krise in Babylon. Das Exil ist seit 538 v. Chr. vorbei, dank eines Edikts des Kyros. Dem toleranten Herrscher wird dafür auch der Titel eines „Messias“ verliehen. Ein König der Perser, ein Fremder als „Gesalbter des HERRN“ – einzigartig im ganzen Ersten Testament (Jes 45,1)!

Lebenskunst
Sonntag, 13.12.2020, 7.05 Uhr, Ö1

„Vom HERRN gesalbt bin auch ich“, verkündet selbstbewusst der Dritte Jesaja in der Zeit bald nach dem babylonischen Exil. „Ruach Adonai, die Geisteskraft des HERRN ruht auf mir“, sagt dieser Prophet zu den Heimgekehrten, die sich als schwach und mutlos erleben. Er fühlt sich gesandt, einen umfassenden sozialen Wandel anzuregen: den Armen Unterstützung geben, die gebrochenen Herzen heilen, den Gefangenen und Gefesselten Befreiung verheißen und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufen.

Für mich ist es faszinierend, wie dieser prophetische Hoffnungstext später, im Neuen Testament auf Jesus von Nazareth bezogen wird. Und zwar vom Evangelisten Lukas – und nur von ihm – beim ersten Auftreten Jesu an einem Sabbat in seiner Heimatstadt Nazaret (Lk 4,16-21). Dieses „Jesaja-Jesus-Evangelium“ – so könnte man es nennen – bildet die Magna Charta der lateinamerikanischen Basisgemeinden. Dazu Hélder Camara, der ehemalige Erzbischof aus Brasilien und bekannte Befreiungstheologe: „Wenn ich den Armen zu essen gebe, nennt man mich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum sie arm sind, nennt man mich einen Kommunisten.“ Auch ein ehemaliger Erzbischof aus Argentinien hat das schon so gesagt, nämlich Papst Franziskus. In vier Tagen feiert er seinen 84. Geburtstag.