Lebenskunst 13.12.2020, Ingrid Pfeiffer

Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land

Inselbücher für Inseltage: Stellen Sie sich vor, Sie bekommen die Frage vorgelegt, welches Buch Sie auf die einsame Insel mitnehmen würden. Ein einziges Buch.

Und, damit wir uns richtig verstehen, es geht hier nicht um Urlaub und um zwei Wochen Ausspannen. Sie, eine Insel, ein Buch. Strecken Sie bereits die Hand nach Ihrem Lieblingsbuch aus? Ziehen Sie sie bitte wieder zurück und warten Sie noch ein wenig.

Ingrid Pfeiffer
ist Autorin und Germanistin

Zuerst kommt die Insel, dann das Buch

Ich selbst stellte mir die Frage nach dem einzigen Buch für die Insel schon vor langer Zeit. Warum? Vermutlich weil das Leben mit Büchern, die immer mehr werden, mich dichter umgeben, bei aller Freude und Aufregung so selbstverständlich schien. Wähle also, sagte ich mir. Nun fragte ich auch andere. Alle sind wir Büchermenschen – und natürlich noch vieles mehr, aber all das sind wir auch, weil wir Lesende sind. Wir, das sind: die Schauspielerin Waltraud Barton mit einem Balladenbuch, der Buchhändler Gerhard Hirtl mit Thomas Manns „Zauberberg“, der Maler und Grafiker Andreas Pfeiffer mit W. G. Sebalds „Die Ringe des Saturn“ und ich, Autorin, mit einem etymologischen Wörterbuch.

Schnell hat sich gezeigt: Zuerst kommt die Insel, dann das Buch. Robinson-Existenzen machen sich fühlbar. Das Buch ist die Möglichkeit, sich selbst nicht verloren zu gehen und auch kein Fremdling in der Welt zu werden. „Im Anfang war das Wort“, dieser tönende Anfang des Johannesevangeliums steht als Eingangssatz über unserer Reise. Das Wort, es geht über uns hinaus und erlaubt uns, auch über diese Insel hinauszukommen. Mit nur einem Buch haben wir unsere persönliche Geschichte als Teil der Weltgeschichte mitgenommen.

Die Verbindung zu sich selbst

Hans Castorp auf seinem Zauberberg, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, ist selbst eine Insel, ein unbeschriebenes Blatt, eine tabula rasa, in die die Ideologen, die ihn umgeben, ihre Theorien ritzen. Wie leicht könnte das auch heute geschehen, wo über differenzierten Ausbildungen die humanistische Bildung verlorenzugehen droht. Auch die geregelten Abläufe in der Heilanstalt suggerieren Zeitlosigkeit, dennoch ist alles, was mit Hans Castorp geschieht, Vorbereitung. Durch diese Tür permanenter Gegenwärtigkeit tritt auch Gerhard jedes Mal neu in die Lektüre ein. Dahinter, er weiß es schon, liegt auf einem Berg die ganze beängstigende, schöne, weite Welt.

Lebenskunst
Sonntag, 13.12.2020, 7.05 Uhr, Ö1

W. G. Sebald verließ seine deutsche Heimat, entzog sich dem Unbehagen an der durch Nazismus und Krieg geprägten Kultur und lebte lieber in Großbritannien. Andreas findet Wesentliches seiner eigenen Biografie in der Sebalds wieder. Und in seiner Arbeitsweise erkennt er eine Verwandtschaft mit jener des Autors. Das Stückhafte, Zusammengesetzte, einander Ergänzende, jedoch nicht Auserzählte verbindet. Sein Inselbuch ist weder Sachbuch noch Roman und doch beides. Der Wanderer findet in abgelegener Gegend in Details die ganze Welt.

Waltraud, durch ihre jahrelange Beschäftigung mit der Shoah, weiß zu erzählen, dass KZ-Häftlinge heimlich Gedichte rezitierten, um sich am Leben zu erhalten, um die Verbindung zu sich selbst und ihrer Herkunft nicht zu verlieren.

Lektüre prägt das Inselleben

Die Entscheidung für ein einziges Buch erinnert auch an Ray Bradbury’s von Francois Truffault verfilmten Roman „Fahrenheit 451“, in dem die Lesenden die Verfolgten sind, von denen sich einige in einen entlegenen Wald retten können, wo jede und jeder ein Buch auswendig lernt, damit es nicht verloren gehe.

Ein einziges Buch! Was haben wir nicht alles zurückgelassen, indem wir unsere Wahl trafen! Unsere Lieblingsbücher, unzählige Romane, sogar die Bibel, denn, so Waltraud, daraus wird vorgelesen, und wir haben dort kein Gegenüber. Das Inselbuch muss sein wie gute Musik und vielleicht unzählige Wiederholungen nicht nur aushalten, sondern uns erlauben, unersättlich zu bleiben.

Die Lektüren helfen bei der Gestaltung der einzelnen Tage und prägen unser Inselleben. Das Abenteuer weckt die Neugierde, aber Angst macht es auch. Wir wollen ja nicht allein sein, aber wir sind es und richten uns ein.

Vielleicht gibt es einen Leuchtturm

Waltraud hat sich mit dem Balladenbuch eine große und andauernde Herausforderung mitgenommen, denn sie wird die Balladen auswendig lernen, jede einzelne von ihnen. Weil Auswendiglernen gesteigertes Lesen ist, und weil sie auf den Klang des Wortes und der Stimme nicht verzichten kann. Der Rhythmus der gebundenen Sprache hilft beim Memorieren und gibt Struktur, die zur Struktur des Daseins auf der Insel wird. Dabei erinnert sie sich an das Auswendiglernen in der Schulzeit und an die vielen Kirchenlieder, die sie lernte, ohne es zu merken. Zu einem derart festen Bestand sollen auch die Balladen werden. Vielleicht kommt ein wildes Tier zu ihr, und sie kann es zähmen, Kraft des Wortes. Sie ist überzeugt: Balladen tun auch wilden Tieren gut.

Ich memoriere auch, um auf meinen langen Spaziergängen nicht immer die ganze, dicke Enzyklopädie mitnehmen zu müssen, präge mir entlegen scheinende Verbindungen ein und baue sie zu Geschichten aus. Anfangs schlage ich mein Wörterbuch auf wie ein Orakel. Doch auch ich brauche Struktur, und lasse mir von meinem Buch helfen, indem ich bei A beginne und mich, den Verweisen folgend, bis Z vorarbeite, um, ja um danach wieder von vorne anzufangen. Es ist nie zu Ende. Wenn ich noch einen weiteren Wunsch frei hätte, so bäte ich um Schreibmaterial. Doch er wird wohl nicht gewährt. Ich schreibe auf Sand und in Stein, auf Rinde und Blatt und sehe zu, wie sich die Natur meine Geschichten einverleibt.

Andreas mit seinem Sebald scheint am besten auf die Insel zu passen. Beide sind sie bescheidene, aber begabte Abenteurer und Wanderer in der Welt und in sich selbst. Ihnen ist die (Selbst)Genügsamkeit näher als das Gefühl der Isolation. Als gute Gefährten finden sie vom Kleinsten ins Weiteste und auch wieder zurück. Und weil auch hier jeder Tag ein neuer Tag ist, gibt es immer genug zu entdecken. Nur innen und außen will Andreas gut getrennt wissen. Ein Haus muss sein, darin ein Leseplatz. Er baut es sich auch selbst, aber vielleicht gibt es ja einen Leuchtturm auf der Insel, und ein Kindheitswunsch geht in Erfüllung.

Der Zauberberg ist überall

Er fügt sich daher auch Gerhards Insel ein. Sein Lesen verschwistert sich der Insel, weil dieses Buch bei aller historischen Bestimmbarkeit des Inhalts, Zeitlosigkeit zur Grundlage hat. Auch Gerhard liest nach außen und nach innen und sieht zu, wie sich die Lesegewichte zwischen den vielen Elementen, zwischen Gelehrsamkeit und Menschenbeobachtung, zwischen historischen und psychologischen Details verschieben. Jede Re-Lektüre ein aufregendes, neues Begegnen. Zwischen diesen liegen die Erkundungen der Insel, von denen er als anderer zurückkommt und dann tatsächlich neu zu lesen beginnen kann.

Ohne wissen zu können, ob es je eintreffen wird, wollen wir alle gefunden werden und hoffen auf Rückkehr oder jedenfalls darauf, die Insel wieder verlassen zu können. Auf Gerhards Insel finden sich Überreste einer früheren Zivilisation, darunter Reste einer halb verfallenen Flaschenfabrik, mit reichlich Material für Flaschenpost. Wenn Andreas mit dem Leuchtturm beschenkt wurde, ja dann…

Gefunden zu werden, das ist für uns alle eine schöne Vorstellung. Wir hätten viel zu erzählen. Und sollte jemand ein Buch darüber schreiben, würde es zweifellos mit dem Satz „Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land“ aus Ingeborg Bachmanns Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ beginnen. Denn es beschwört das Fern-Nahe, das bedrohte, das inselhafte Menschsein, das „ans Meer begnadigt wurde“, wie es bei Bachmann heißt. Begnadigt, weil zum Wort gekommen – eine Verheißung, der die vier InsulanerInnen dieses Experiments zustimmen. Eine andere Zeile dieses Gedichts wünschen sie sich als (mächtigen) Schlusssatz: „Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.“