Lebenskunst 20.12.2020, Gerhard Langer

Bibelessay zu Lukas 1,26-38

Wenige Texte des Neuen Testaments sind so vertraut wie der Beginn des Lukasevangeliums mit der Verkündigung der Geburt eines Sohnes an das jüdische Mädchen Mirjam aus Nazaret, mittlerweile längst bekannt und verehrt als Heilige Maria.

Diese Verkündigung, lateinisch Annunciatio, wird im Katholizismus, in der Orthodoxie und in manchen evangelischen Kirchen mit einem eigenen kirchlichen Fest im Jahr verbunden, das meistens am 25. März gefeiert wird, also genau neun Monate vor dem Geburtsfest von Jesus. Mancherorts begann mit diesem Fest sogar das neue Jahr.

Gerhard Langer
ist katholischer Theologe und Professor für Judaistik an der Universität Wien

Von der Bereitschaft, das Unerwartete zuzulassen

Maria agiert in dieser Erzählung ganz im Stile der alttestamentlichen Prophetinnen und Propheten. Wie bei ihnen geschieht die Berufung spontan, unerwartet, wie sie legt sie einen Einwand vor: Wie soll das denn überhaupt gehen? Und wie bei den Propheten wird der Einwand durch die machtvollen Worte des himmlischen Boten widerlegt und ein Zeichen hinterlassen. In diesem Fall ist es der Hinweis auf die wundersame Schwangerschaft der Mutter des Johannes des Täufers, Elisabet, die als unfruchtbar galt.

Aber anders als etwa ein Prophet Jeremia wehrt sich Maria nicht gegen ihre Berufung, sondern nimmt sie willig an, erweist sich ihrer absolut als würdig. Ganz wie Abraham steht sie voll im Glauben an die Macht des Gottes, der Wunder bewirken kann. Sie reiht sich damit in eine Riege starker prophetischer Frauen ein. Es mag erstaunen, aber sie wird damit sogar zum Vorbild einer jüdischen Auslegung im Talmud, wo es heißt, dass eine andere Mirjam, zur Zeit der Sklaverei in Ägypten, ihre Eltern mit beharrlichem Zureden ermutigte, auf Gott zu vertrauen, der den Retter schenken wird, worauf ihre Mutter mit einem Sohn schwanger wird. Dieser Sohn ist niemand geringerer als Mose.

Ein Ruf gegen die Hoffnungslosigkeit

Diese Erzählung, Jahrhunderte nach dem Lukasevangelium geschrieben, orientiert sich an der christlichen Tradition, ohne sie vollständig zu übernehmen, und stellt ihr die jüdische Prophetin Mirjam gegenüber, die stark und aktiv für die Hoffnung kämpft. In Judentum und Christentum ist demnach an entscheidenden Wendepunkten der Geschichte Hoffnung ohne starke prophetische Frauen nicht denkbar.

Lebenskunst
Sonntag, 20.12.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Die Verkündigung Jesu an Maria soll im Frühjahr stattgefunden haben, genau neun Monate vor der Geburt Jesus. Denn die Vorstellung ist, dass die Ankündigung eines Wunders das Wunder selbst bereits auslöst. Maria ist also sofort schwanger. Das Frühjahr ist die Zeit des Aufblühens neuen Lebens, die Zeit, wo die Tage länger werden, der reale und sprichwörtliche Winter zu Ende geht.

Für das kommende Frühjahr erwarten wohl auch sehr viele Menschen hierzulande ein Ende einer schwierigen, für manche sogar lebensbedrohlichen Zeit. Die Hoffnungen richten sich dabei zumeist weniger auf Gott oder eine Prophetin, als auf die Medizin, die retten und schützen soll, und auch auf die Politik, die schwierige Entscheidungen fällen muss. Kann da ein Text wie dieser überhaupt hilfreich sein? Seine Botschaft ist in jedem Fall ein Ruf gegen die Skepsis, gegen die Hoffnungslosigkeit, gegen die Verzweiflung und für die Bereitschaft, das Unerwartete und Überraschende auch im Positiven zuzulassen. Das ist keine Frage des Glaubens, sondern der inneren Einstellung zur Welt und zum Leben.