Lebenskunst 27.12.2020, Markus Schlagnitweit

Bibelessay zu Lukas 2,22.39-40

Weihnachtszeit ist Familienzeit – und zwar weltweit! Auch in Afrika, in den USA oder in Australien etwa nehmen zu Weihnachten Menschen oft weite, beschwerliche Wege auf sich, um ihre Eltern und die Dörfer ihrer Kindheit aufzusuchen.

Die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen werden in diesen Tagen deshalb als besonders schmerzlich empfunden. – Vielleicht bringen gerade sie aber allen Menschen, die Weihnachten feiern, sogar der eigentlichen Hauptfigur dieser Festtage, Jesus von Nazareth, näher: den Umständen seiner Geburt ebenso wie wichtigen Elementen seiner Botschaft.

Markus Schlagnitweit
ist Theologe, Priester und Sozialethiker

Über Gotteskinder und andere Verwandte

Bekanntlich war der Geburtsort Jesu ja kein trautes Heim und sein engster Familienkreis das, was man heute „Patchwork-Familie“ nennen würde. V.a. aber täuschen die Evangelien nicht über die auch sein späteres Leben kennzeichnende „Familien-Ferne“ Jesu hinweg: Jesus beteiligte sich nach allen Überlieferungen offenbar nicht an der Führung und Versorgung einer Familie – weder durch Ausübung eines Geldberufs noch durch Heirat und eigene Kinder – und das, obwohl er Frauen wie Kindern durchaus zugetan war. Auf die Frage nach seiner Herkunft gab er immer nur eine Antwort: Gott, der Vater im Himmel.

Lebenskunst
Sonntag, 27.12.2020, 7.05 Uhr, Ö1

Vielleicht ließ ihn aber gerade seine familienferne Lebensform besondere Aufmerksamkeit für jene bewahren, die aus einem intakten Familienverband herausgefallen waren: Witwen und Waisen, als öffentliche Sünderinnen verfemte Frauen, Aussätzige, Fremde. Wichtiger als Familienbande war Jesus eindeutig der Anbruch des Gottesreichs, jenes Versprechens, das der Gott der Bibel den Menschen gegeben hat. Wichtiger als Familienrücksichten war ihm deshalb die Frage, wer jetzt gerade seine Zuwendung und Nähe brauchte. Wichtiger als Verwandtschaftsverhältnisse war ihm stets die gemeinsame Herkunft aller Menschen von Gott.

Vielleicht erscheint diese Familienferne Lebensauffassung Jesu gerade in diesen Tagen befremdlich und hart. Man muss aber zugeben, dass die jesuanische Sprengung des engen Familienbegriffs hin auf die Gotteskindschaft aller Menschen gerade jenen eine Perspektive eröffnet, die es selbst schwer haben mit ihrer Familie oder eine solche überhaupt entbehren müssen. Und vielleicht könnte die heurige, pandemiebedingte Behinderung des gewohnten weihnachtlichen Familienbrauchtums, ein wenig Freiraum schaffen für eine stärkere Aufmerksamkeit und Zuwendung zu jenen Menschen im persönlichen Lebensumfeld, die – aus welchen Gründen immer – diese Tage überhaupt ohne Familie verbringen müssen.