Lebenskunst 24.1.2021, Wolfgang Treitler

Bibelessay zu Markus 1,14-20

Anfänge sind faszinierend, wenn man sich an sie erinnern kann. Sie sind schon vorbereitet, man geht auf sie zu und dann beginnt man einen Weg. Niemand weiß, wo er enden wird.

Die Erinnerungen solcher Anfänge wandeln sich im Lauf der Lebenswege. Alte Menschen erzählen häufig von ihrer Kindheit und Jugend, von guten Anfängen; das Schwere wird nicht ausgeblendet, leuchtet jedoch oft in anderem Licht. Junge Menschen erinnern sich viel seltener ihrer Kindheit, und wenn, dann manchmal ein wenig beschämt. Es ist so, als blickte ein Schmetterling in seiner Schönheit auf die leere Hülle seiner Larve und versteht nicht mehr, dass diese Larve einst das eigene Leben war. Der Weg der Jungen läuft nach vorn, hinein in ein fast Endloses. Sie haben Zeit. Alte Menschen sind Zeit geworden und fassen sie in Rückblenden auf frühere Tage zusammen.

Wolfgang Treitler
ist Theologe und Judaist

Vom Versprechen des Anfangs

Nochmals anders liegt das Ganze, wenn man auf Aufzeichnungen aus frühen Tagen stößt, auf Tagebücher, auf Briefe, als man sie noch schrieb, auf etwas Geschriebenes von damals. Man wundert sich über Vergessenes, vielleicht auch über große Hoffnungen, die man erträumt hat, die nie wirklich geworden sind, aber doch unverloren bleiben, weil man über sie einmal geschrieben hat.

So ähnlich lese ich diesen großen, kräftigen Auftakt des Markusevangeliums. In wenigen Sätzen wird ein faszinierender Anfang erzählt, als eine Antwort auf eine Hinrichtung, der man nicht das letzte Wort lassen wollte. Die große Botschaft ist eindeutig: Das Gottesreich ist nahe, d.h. der Friede, die Befreiung, Leben ohne die Bitternis des Todes. Und am Ende desselben Evangeliums hängt der Künder dieser Botschaft am Kreuz, ruft nach dem Gott, der ihn verlassen hat, und lässt eine vom leeren Grab davonlaufende Gruppe irritiert zurück.

Lebenskunst
Sonntag, 24.1.2021, 7.05 Uhr, Ö1

Große Versprechen – und was daraus wird

Und doch – ich frage mich: Liegt vielleicht ein Trost darin, dass am Ende dieses großen Anfangs etwas steht, das man nicht mehr gut deuten kann? Das sich nicht mehr verfängt in den Netzen von den großen Versprechen und dem, was dann wirklich daraus wird? Das dem Hin und Her von Hoffnung und Enttäuschung ein Ende gesetzt ist, das über all das hinausweist?

Oder anders gefragt: Hat nicht ein wirklich großer, schöner Anfang ein Versprechen hören lassen, das in allem Bruchwerk eines Lebens nicht verstummt ist? Ist nicht ein jeder solcher Anfang eine Art Evangelium, eine große Zusage, dass die kommenden Geschichten, die man durchlebt, nicht das Ganze gewesen sein werden? Nicht das Ganze gewesen sein dürfen?