Lebenskunst 21.2.2021, Martin Jäggle

Bibelessay zu Genesis 22,1-2.9a.10-13.15-18

Diese Erzählung aus dem ersten Buch der Bibel ist schwer verdaulich. Viele reagieren einfach nur empört und wissen sich in ihrer Ablehnung des sogenannten Alten Testaments bestätigt. Tatsächlich erschließt sich dieser Bibeltext schwer – nicht nur Menschen heute.

An ihm zerbrechen viele, vielleicht sogar die meisten, lieb gewordenen Vorstellungen von Gott. Seit es diesen Text gibt, ringen jüdische, aber auch christliche Fachleute um seine Auslegung.

Martin Jäggle ist katholischer Theologe und Religionspädagoge

Die ersten Worte der Erzählung machen deutlich: „Gott stellte Abraham auf die Probe.“ Abraham soll sich bewähren in einer dunklen, ausweglosen Situation. In der Erzählung ist Abraham nicht sehr gesprächig, aber was er sagt, sagt er dreimal: „Hineni!“ „Hier bin ich!“ Das erste Mal als er von Gott angesprochen wird: „Hineni!“ „Hier bin ich!“ Das zweite Mal als er von seinem Sohn angesprochen wird: „Hineni!“ „Hier bin ich!“ Das dritte Mal als er vom Engel angesprochen wird: „Hineni!“ „Hier bin ich!“

Dieses hebräische Wort „hineni“ ist das erste Wort, das ein jüdischer Vater zu seinem neugeborenen Kind sagt. Es bedeutet: Hier bin ich mit Leib und Seele, mit größter Aufmerksamkeit und Verantwortung. Abraham erklärt sich Gott und seinem Sohn gegenüber verantwortlich. Er war der erste, der so gegenüber Gott sprach und nach ihm wird es von Isaak, Jakob und anderen in der Bibel erzählt, was Gott selbst zu den Menschen sagt: „Hineni!“ „Hier bin ich!“ Seitdem sprechen es Jüdinnen und Juden – und Leonard Cohen singt, ja haucht es: „Hineni!“

Durch den Engel lernt Abraham am Berg Morija: Gott will keine Menschenopfer. Das führt aktuell zur Frage: Was lernt Europa in Moria, dem Lager für Geflüchtete auf der Insel Lesbos?

Ganz andere Perspektiven ergeben sich in der jüdischen Tradition. Da trägt der Bibeltext den Titel „Die Bindung Isaaks“. Denn es ist der erwachsene Isaak, so wird es gesehen, der sich binden lässt – bereit zum Opfer. Die Bindung Isaaks endet nicht tödlich, aber die Pogrome der Kreuzzüge und die Schoa. Dort sterben die jüdischen Opfer nicht wie Isaak, sondern als Isaak.

Die jüdischen Märtyrerinnen und Märtyrer „gaben sich der Opferung hin und bereiteten selbst die Schlachtstätte zu, wie einst der Vater Isac“, erinnert Rabbiner Ephraim bar Jacob im Mittelalter. Isaak wird zum Vorbild jener, die angesichts drohender Zwangstaufe am jüdischen Glauben festhalten und das Martyrium auf sich nehmen. Für Wien wird dies fast genau vor 600 Jahren in der Wiener Gesera berichtet.

Die „Bindung Isaaks“ ist für das jüdische Volk in Zeiten der Verfolgung und Vernichtung ein Modell der Leidensbewältigung geworden. Es verleiht einem unbegreiflichen Unglück Sinn und die Würde des Martyriums.

Es bindet das jüdische Volk tröstend in die Gemeinschaft der Opfer der jüdischen Geschichte ein. Wie Verena Lenzen schreibt: „Als Identifikationsfigur für Verfolgte überdauert die Bindung Isaaks Jahrhunderte, und sie schließt klar und deutlich die gesamte jüdische Geschichte ein, ja, sie umfasst sie – als wandelten Abraham, Sara und Isaak noch auf der Erde.“