Lebenskunst 5.4.2021, Mirja Kutzer

Bibelessay zu Lukas 24,13-35

Wie viele Texte der Bibel ist auch die Erzählung von den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus ein mir vertrauter Text. Natürlich – ich bin christliche Theologin, da sollte ich mit den Texten der Bibel etwas zu tun haben, zumal wenn sie von der Auferstehung Jesu erzählen.

Die Vertrautheit ist freilich nicht nur professionell, ja nicht einmal nur religiös. Seit meiner Kindheit begleitet der Text – mehr oder minder – die Spaziergänge am Ostermontag. Da lässt sich wunderbar nach Emmaus gehen, Eier schmeißen, in zumindest damals geöffnete Gaststätten einkehren, im Übrigen auch mit Menschen, die mit dem lieben Gott gar nichts am Hut haben.

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin an der Universität Kassel

Was Texte „heilig“ macht

Die Geschichte hat so irgendwie ihren Platz, wenn auch nicht unbedingt große Bedeutung. Schon gar nicht die, die der Text eigentlich intendiert: Nämlich zu zeigen, wie Menschen zum Glauben an so etwas wie Auferstehung kommen. Als Teil der Bibel, der Heiligen Schriften des Christentums beansprucht der Text zwar Autorität. Aber dass diese sich auch entfaltet, dass die Erzählung tatsächlich bedeutsam wird im Leben von Menschen – das ist dadurch keineswegs ausgemacht.

Im Grunde spiegelt sich diese Situation des Textes heute mit dem, was er inhaltlich erzählt. Auch in der sogenannten Emmausgeschichte geht es um die Lektüre von Heiligen Texten – in dem Fall den Texten des Volkes Israel, in der christlichen Lesart: des Alten oder auch Ersten Testaments. Als Publikum der Erzählung sind wir mit den beiden Jüngern unterwegs. Sie reden miteinander, ohne dass das Publikum weiß, worüber. Dann stößt Jesus von Nazareth zu ihnen, den sie nicht erkennen. Aber sie beginnen zu erzählen, und so erfahren auch wir Lesenden oder Hörenden, wer sie sind, und was sie umtreibt.

Lebenskunst
Ostermontag, 5.4.2021, 7.05 Uhr, Ö1

Von Erzählungen, Erfahrungen und Begegnungen

Jesus reagiert auf die Erzählung mit einem unvermittelten Vorwurf: „Ihr Unverständigen, deren Herz zu träge ist, um alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben.“ Anders gesagt: Hätten die beiden die Heiligen Texte des Volkes Israel wirklich gelesen, hätten sie sich ihnen anvertraut, dann würden sie jetzt nicht so verwirrt durch die Gegend laufen. Dann wüssten sie längst, was es auf sich hat mit dem, was die Frauen erzählt haben. Und sie hätten längst erkannt, wer da mit ihnen auf dem Weg ist. Der Vorwurf wirkt einerseits ungerecht: Keineswegs stehen in den Schriften Dinge, die sich eins zu sein auf Jesus übertragen ließen. Doch andererseits: Die Texte insgesamt erzählen von einem Gott, der rettet und Gerechtigkeit will. Sie hätten den Jüngern das Vertrauen vermitteln können, dass Gott Jesus nicht im Tod lässt.

Es ist offenbar damals wie heute: Die als „heilig“ bezeichneten Texte, auch wenn sie vertraut sind, sind nicht aus sich selbst heraus einfach „heilig“, nicht bedeutsam. Sie werden es erst dann, wenn Menschen diese verbinden mit ihren eigenen Erzählungen, mit dem, was sie umtreibt. Gott, Jesus, die Auferstehung – dies alles begegnet uns heute in Texten, als ihr Inhalt, als Figuren von Erzählungen. Und doch sind die Texte, ihr aufgeschriebener Inhalt, nicht das Ziel: Ziel ist eine Begegnung – zwischen Erzählungen, zwischen Menschen unterschiedlicher Zeiten, zwischen Gott und Mensch. Dann kann es sein, so sagen es die Emmausjünger, dass die Herzen beginnen zu brennen.

Vielleicht ist es mein pandemiegeplagter Blick, der es mir so plausibel erscheinen lässt, wo die Geschichte endet: Dort, wo Menschen einander zu Gast sind, wo sie gemeinsam miteinander essen. Sie fehlen gerade, diese Momente des geteilten Lebens. Wo Menschen reden und Erzählungen aufeinandertreffen. Wo könnte man sich besser begegnen.