Lebenskunst 25.4.2021, Martin Jäggle

Bibelessay zu Johannes 10,11-18

Nie wollte ich ein Schaf sein und schon gar nicht, wie ein Schaf behandelt werden. In dieser Haltung bin ich mein Leben lang bestätigt worden.

Im Bild der Herde habe ich für mich ebenfalls keinen Platz gefunden. Daher kann ich alle gut verstehen, die allergisch auf fromme Geschichten von Schafen reagieren, von Schäfchen-Geschichten ganz zu schweigen. Auch mein Bedarf nach einem Hirten für mich persönlich ist nicht sehr ausgeprägt.

Martin Jäggle
ist katholischer Theologe und Religionspädagoge

Wer ist ein guter Hirt?

Doch langsam habe ich mir einen Zugang zu den biblischen Erzählungen erarbeitet, deren Bilder aus einer weithin vergangenen und fremd gewordenen Lebensweise stammen. Dazu gehört das Bild vom Hirten, das leider allzu leicht idyllisiert wird. Dabei war und ist Hirt sein ein sehr riskanter Beruf am Rande der Gesellschaft. Genauer betrachtet: Ein Hirt hat nicht alle Macht, sondern er setzt sich in seiner Sorge um die Herde der Unbill des Wetters aus und den Bedrohungen durch wilde Tiere. Und ein Hirte hat es mit der Herde nicht leicht, denn er kann nicht einfach über die Herde bestimmen. In jeder Herde gibt es eine große Vielfalt und Buntheit, gibt es Stärkere und Schwächere, gibt es Konkurrenz. Was ein Hirte hier braucht, ist Verständnis für und Beziehung zu den Einzelnen. Und er muss bei Konflikten eingreifen, sonst bleiben die Schwächeren auf der Strecke.

Im gerade gehörten Evangelium kommt treffend zur Sprache, wie sehr es im Verhältnis von Hirt und Herde um Beziehung und gewachsenes Vertrauen geht, wenn der Verfasser in seinem Evangelium Jesus von Nazareth sagen lässt: „Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“ Da ist für blinde Gefolgschaft oder fanatische Selbstunterwerfung kein Platz.

Lebenskunst
Sonntag, 25.4.2021, 7.05 Uhr, Ö1

Unterschiedliche Qualität von Hirten

Auch das Konfliktpotential bleibt nicht ausgeblendet. Wenn es heißt: „Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind“, dann liegt es nahe, an Probleme zu denken, die sich eben daraus ergeben, dass Menschen „nicht aus demselben Stall kommen“, also „einen anderen Stallgeruch haben“.

Angesichts der bekannt unterschiedlichen Qualität von Hirten stellt der Autor des Johannesevangeliums Jesus als „guten Hirt“ vor, der voll Liebe ist, erfüllt von der Liebe Gottes, dem Geheimnis und Grund seines Lebens. So ist der „gute Hirt“ Jesus ein Bild für einen sorgsamen und sorgenden, ja sich selbst riskierenden Gott. Dieses Bild von Gott als Hirten übt Kritik, ist ein Gegenbild zu der weitverbreiteten Vorstellung von einem mächtigen, großartigen, unberührbaren und unbewegten Gott, der alle und alles unter seiner Kontrolle hat, ja es stellt dieses Bild sogar in Frage.

Der „gute Hirt“ ist nicht allmächtig, er macht sich aus seiner Liebe heraus verletzbar. Ein faszinierendes Bild, ein starkes Bild – auch von Schwäche? Könnte das nicht vielleicht ermutigen, seine eigene Verletzbarkeit anzunehmen?