Lebenskunst 16.5.2021, Markus Schlagnitweit

Bibelessay zu Johannes 17,6a.11b-19

Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Jesus von Nazareth dieses sogenannte „Abschiedsgebet“ niemals so gesprochen hat, wie es im Johannesevangelium überliefert ist, nicht zuletzt, weil dieses erst gegen Ende des ersten Jahrhunderts entstanden ist, also Jahrzehnte nach seinem Tod.

Das tut der Aussage und Bedeutung dieser Worte aber keinen Abbruch. Sie sind so etwas wie eine theologische Reflexion über ein Faktum, das die frühe Christenheit ebenso beschäftigen musste wie die gegenwärtige: Ich meine die Erfahrung, dass die unmittelbare Gegenwart Jesu in unserer Geschichte an ein Ende gekommen ist. Er hat ein Vermächtnis hinterlassen, aber er hat es seinen Nachfolgern überantwortet. Die Fortführung seines Erbes steht seit den Anfängen des Christentums also unter einer Spannung: Auf der einen Seite muss es um größtmögliche Treue und Nähe zu allem gehen, was von dem als Messias geglaubten Jesus überliefert ist. Auf der anderen Seite aber braucht es die eigenverantwortliche Suche und Beschreitung von neuen Wegen.

Markus Schlagnitweit
ist katholischer Theologe, Priester und Sozialethiker

Den Namen Gottes offenbaren

Denn es stellen sich im Laufe der Zeit immer wieder neue Herausforderungen und Fragen, zu welchen die ausschließliche Orientierung an der Jesus-Überlieferung keine brauchbaren Antworten mehr bietet. Auf Fragen nach dem Christsein heute taugen meiner Wahrnehmung nach oft schon nicht einmal mehr Antworten, die vielleicht noch vor 50 Jahren ihre Berechtigung und Gültigkeit besaßen. Es kann in der Christenheit also nicht primär darum gehen, möglichst viel von den Ursprüngen durch die Zeiten hindurch zu retten. Vor allem die äußeren Strukturen werden früher oder später überholt. Es hat doch vielmehr um den eigentlichen, vitalen Kern der Jesus-Botschaft zu gehen, der bewahrt und weiter tradiert werden muss.

Bleibt die Frage, worin dieser vitale Kern besteht, um den allein es gehen kann und muss. Mein Vorschlag für ein Unterscheidungskriterium: Immer wieder danach fragen, wofür Jesus eigentlich sein Leben eingesetzt hat und gestorben ist. Angesichts dieser Frage verblasst vieles zur Bedeutungslosigkeit, was für manche – zumindest in der römisch-katholischen Christenheit – unverzichtbar und auf ewig zum Wesen der Kirche zu gehören scheint.

Lebenskunst
Sonntag, 16.5.2021, 7.05 Uhr, Ö1

Wofür Jesus gelebt hat und gestorben ist

Oder kann sich jemand ernsthaft vorstellen, Jesus hätte sein Leben etwa dafür hingegeben, dass nur zölibatäre Männer für höhere Leitungsämter in seiner Jüngerschaft in Frage kämen, dass homosexuell liebende Menschen nur am Rande der Kirche Platz hätten, oder dass das Gedächtnis des Letzten Abendmahls wiederum nur unter dem Vorsitz von lebenslang zölibatären Männern gültig gefeiert werden könne? Könnte man dafür wirklich sein Leben lassen und Menschen gewinnen?

Wofür Jesus gelebt und sein Leben eingesetzt hat, ist dagegen ziemlich unstrittig überliefert – etwa im Lukasevangelium, wo es von seinem ersten öffentlichen Auftreten berichtet und wo Jesus sagt, wozu er gekommen ist: Armen eine gute Nachricht bringen, Gefangenen die Entlassung künden, Blinde aufblicken lassen, Unterjochte freisetzen und eine Zeit ausrufen, in der allein Gottes Gerechtigkeit gelte (vgl. Lk 4,16ff.). – Das ist die bleibende Inhaltsangabe des Christentums, die gleichwohl nach zeitgemäßer Umsetzung verlangt.