Lebenskunst 30.5.2021, Klaus Pfatschbacher

Philip Roths Nemesis – Lektüre in der Pandemie

Unsere Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein; die Pandemie hat Gewohntes verändert, übliche Rezepte funktionieren nicht mehr, in der Fülle von Perspektiven, welche unsere Welt abbilden, findet man nur schwer Orientierung.

Was liegt näher, als in der Literatur Trost und Halt zu finden? Sie soll die notwendige Aufklärung bieten und für mich die benötigten Einsichten in die Dissonanz der Stimmen.

Klaus Pfatschbacher ist AHS-Lehrer und Lektor an der FH-Krems

Mit welcher Methode soll ich an die Literatur herangehen, um Wahrheit herauszufinden? Ein im 20. Jahrhundert moderner Ansatz besagt, dass es vor allem darum geht, die Welt so zu beschreiben, wie sie sich vor unseren Augen entfaltet. Kein Detail ist zu banal, auf keine Handlung – mag sie auch noch so zweitrangig wirken – soll verzichtet werden. Nur so nähern wir uns dem Gegenstand in seinem Wesen; aus den Eindrücken, die sich aus den diversen Beschreibungen ergeben, entsteht ein festes Bild, das letztlich Wahrheit spiegelt. Der Wert, den die einzelnen Dinge besitzen, wird für mich verständlich. Die Situation, wie sie sich präsentiert, wird eingefroren, wir können das Wesentliche des Augenblicks begreifen. Die Welt in ihrem oft verwirrenden Elan, der für ständige Veränderung sorgt, wird so besser fassbar, Einordnungen und Einschätzungen kann ich leichter treffen.

Lebenskunst
Sonntag, 30.5.2021, 7.05 Uhr, Ö1

Bei der Lektüre eines späten Romans von Philip Roth, der thematisch bestens zu unserer Zeit passt, lässt sich für mich ein solcher Ansatz ausgezeichnet umsetzen: In Nemesis situiert der amerikanische Starautor das Geschehen im Newark (New Jersey) des 2. Weltkrieges, wo die Kinderlähmung noch nicht besiegt ist und es zu zahlreichen Todesfällen kommt. In diesem Kontext berichtet uns der Ich-Erzähler, der sich sehr zurückhält und als unparteiischer Beobachter auftritt, vom jungen Sportlehrer Bucky Cantor, der als Verantwortlicher für die Freizeitbetreuung seine Schüler entscheidend prägt. Er muss aber dann miterleben, wie mehrere Kinder an Polio erkranken und kann nur völlig machtlos der Tragödie zusehen.

Roth schlägt in seinem schmalen Roman ein relativ hohes Erzähltempo an, was auch für die Beschreibung der Liebesgeschichte gilt: Cantor verlässt letztlich Newark, um mit seiner Angebeteten in Sicherheit – weit weg von der so bedrohlichen Krankheit – an einem See in den nahe gelegenen Bergen als Schwimmlehrer zu arbeiten.

Dort bietet sich dem Erzähler immer wieder Gelegenheit, gewissermaßen Bilanz zu ziehen. Was in einer ereignisreichen Zeit voller Peripetien, voller Wendepunkte, wirklich zählt, kristallisiert sich in diesen Augenblicken. Dabei fällt mir vor allem auf, dass es sich um ermutigende Botschaften handelt. Wenn der Held auch mannigfaltigen Schwierigkeiten gegenübersteht (insbesondere Schuldvorwürfen von Eltern in Newark), so vermittelt der Erzähler durch die exakte Schilderung von stark positiv konnotierten Szenen, die deutlich das Erzähltempo drosseln und so hervorstechen, eine Botschaft der Hoffnung.

Cantor betätigt sich etwa als Wasserspringtrainer und hebt durch besonderen Einsatz und persönliche Beispiele das Niveau eines Sportlers deutlich. Bezeichnenderweise tragen sich diese Szenen zu, wenn im Ferienlager Ruhe eingekehrt ist, unsere ganze Konzentration liegt auf der panoramaartigen Schilderung der Erfolgsgeschichte.

Zu Kommentaren lässt sich der Erzähler allerdings nie hinreißen; moralisierende Bemerkungen fehlen im Text, was deutlich seine Glaubwürdigkeit und Relevanz erhöht; indem die geschilderten Ereignisse für sich sprechen, nähert sich der Erzähler für mich der Wahrheit an.

Dies gilt auch für die überraschende negative Wende, die der Roman nimmt: im Ferienlager bricht die schreckliche Krankheit aus, Cantor glaubt sie dort eingeschleppt zu haben, er betrachtet sich als hauptverantwortlich für die Weiterverbreitung. Sein Verhalten führt letztlich zum Bruch mit seiner Verlobten – zu schwer lastet der selbst erzeugte Druck auf ihm.

Am Textende – nachdem zahlreiche Jahre vergangen sind – konzentriert sich die Erzählung auf den gealterten Cantor, Anlass für die zentrale Passage des Textes: Nostalgisch wird auf den jungen Lehrer zurückgeblendet, was jedoch plötzlich in allgemeine Betrachtungen über das Menschsein in Zeiten der Krise übergeht, für mich der bedeutendste Abschnitt.

Dabei bedient sich der Erzähler einer vielschichtigen Metapher des Sportes, des Bildes eines Speerwerfers: Bucky Cantor erscheint als begeisterter Trainer, der die Leidenschaft für seine Disziplin spielerisch weitergibt. Er erklärt im Detail, auf welche Technik es im Speerwurf ankommt und welche Vorbereitungsübungen durchzuführen sind. Zudem streicht er drei zentrale Werte hervor, die im Sport zum Erfolg führen: Entschlossenheit, Hingabe und Disziplin. Mit einer entsprechenden Haltung ließen sich die ehrgeizigsten Ziele erreichen.

Das gezeichnete Bild steht als pars pro toto für Menschen in einem Bedrohungsszenario: Mit dem notwendigen Einsatz und mit Hingabe könne man sich auch gegen Epidemien und in aussichtslosen Situationen durchsetzen. Dadurch werde die Menschheit unbesiegbar (nicht umsonst bildet der genannte Begriff das letzte Wort des Textes). Stabilität sowie Friede werden garantiert. Der Mensch kann – hier erinnere ich mich an die Ausführungen des Heiligen Augustinus über Frieden und Glück – zu einem erfüllten Leben finden.

Die erwähnte Unverletzlichkeit des Menschen wird im Text umso plausibler, als die Metapher des Speerwurfes über mehrere Seiten hinweg um verschiedenste Nuancen – einem Musikstück vergleichbar – angereichert wird, bis der Spannungsaufbau im Begriff invincible (unbesiegbar) kulminiert. Philip Roth hat in ihm – in Zeiten der Epidemie – seine Wahrheit gefunden.