Lebenskunst 3.6.2021, Philipp Hochmair

Kelch des Leids, Kelch der Freude – Bibelessay zu Markus 14,12-26

Wenn ich diese Zeilen lese, denke ich an meine Großmutter in Oberösterreich zurück, die mir immer wieder erzählt hat, dass Judas – für 30 Silberlinge – Jesus verraten hat.

Markus 14, 12-26.

Die aquarellierte Zeichnung von einem modernistisch naiven Maler aus der Gegend, die über ihrem Esstisch hing, stellt das sogenannte letzte Abendmahl recht einfach und anschaulich dar.

Für 30 Silberlinge!
Der Gegenwert liegt umgerechnet bei einem Esel damals und ca. 10.000 Euro heute.
Für 30 Silberlinge hat er ihn verraten!

Philipp Hochmair
APA/HANS PUNZ
Philipp Hochmair (Preisträger Beliebtester Schauspieler Serie/Reihe) am Samstag, 13. April 2019, im Rahmen der Romy-Gala in der Hofburg in Wien

Das hat mich als Kind sehr beschäftigt.
Jesus‘ Wissen verraten zu werden,
sein Wissen bald sterben zu müssen,
diese dunkle Vorahnung, waren wie ein böses Rätsel – für mich – als Kind.
Und ich hab immer wieder versucht – aus den holzschnittartigen Gesichtern der Jünger – auf dieser einfachen Zeichnung – Judas und seine Motive zu erkennen.

„Danach hat er sich umgebracht“,
hat die Großmutter auch immer wieder – mit einem gewissen Pathos – erzählt.
„Nach dem Verrat… da… hat er sich umgebracht!“
Sie hat es in einem Ton erzählt, als wäre Judas einer unserer Nachbarn gewesen.

Judas oder Jesus? Was wird einmal aus mir? habe ich mich damals gefragt.
Gut oder Böse?
Und: Was macht Judas überhaupt zum Verräter?
Und: Warum hängt diese verhängnis- und sorgenvolle Situation hier in unserem Esszimmer?

Vielleicht hat sich da erstmals – dieses „Unbehagen in der Kultur“ – in mir gemeldet…
Diese sogenannte „geerbte Schuld“.
Und vielleicht wurde – durch diese düsteren Fragen – im Kopf des Kindes –
der Grundstein gelegt, irgendwann einmal – als Erwachsener – das zu erforschen :
Eines Tages – als Schauspieler – „böse Rollen“ spielen zu dürfen:
In die Köpfe, in die Gedanken und Motivationen
dieser sogenannten „bösen Charaktere“ hinein zu leuchten.

Die Liste meiner „bösen Rollen“ ist lange:
Mephisto – in Goethes Faust,
Joachim Schnitzler – in den Vorstadtweibern,
Reinhard Heydrich – einer der Hauptorganisatoren des Holocausts, in der Wannseekonferenz
Dorfrichter Adam – in Kleists „Zerbrochenem Krug“,
August Eigruber, der oberösterreichische Gauleiter im Film „Ein Dorf wehrt sich“ – usw

Ich bin meiner Großmutter – auf eine gewisse Weise – dankbar, dass sie mir dieses Judas-Geschichte
so früh auf den Weg mitgegeben hat…
Und wenn ich heute diese Zeichnung im Esszimmer betrachte, bin ich noch genauso ratlos wie damals.
Die Fragen sind dieselben geblieben, aber durch die Auseinandersetzung mit dem sogenannten „Bösen“, komme ich den Antworten Stück für Stück näher.

Judas wird zwar durch die Geschichte zwar zum brillanten Negativ-Beispiel par excellence…:
Die bösartigste Gestalt der ganzen Weltgeschichte!
Einer, der aus reiner Geldgier den Sohn Gottes verrät!
Aber ist das schon alles?
Ist Judas einfach nur böse?

Wir tragen alle das Gute und das Böse gleichzeitig in uns.
Die Grenze dazwischen ist relativ dünn.
Psychologen bestätigen, dass die Lebensumstände darüber entscheiden,
welche Kraft letztendlich die Oberhand gewinnen wird.

Und wie stellt sich Mephisto, der Teufel – der Inbegriff des Bösen – in Goethes Faust vor –
„Ich bin ein Teil von jener Kraft die stets das Böse will und stets das Gute schafft…“