Lebenskunst 4.7.2021, Johannes Michael Modeß

Bibelessay zu 1 Korinther 1,18-28

Schräge Vögel haben mich immer fasziniert. Schon in meiner Jugend. Sie strahlen etwas aus von einem Mut, einer Gelassenheit, einer Wurschtigkeit, die allzu oft zu fehlen scheint.

Später dann eine erste leise Ahnung: Sollten sie, die schrägen Vögel, vielleicht gar Vorbilder sein im Glauben, im Leben mit Gott? Vor dem inneren Auge eine Galerie der schrägen Vögel, denen ich schon begegnet bin. Finnland 2018: Mann im Bus, der die Psalmen liest und dabei so laut lacht, dass man einfach mitlachen muss. Deutschland 2003: Mitschülerin, die sich dem Turnunterricht widersetzt und auf der Laufbahn ein Buch liest. Rom, 476 nach Christus: Kaiser, der Hühner züchtet, Spargelwein trinkt und nichts dagegen tut, dass sein Imperium untergeht.

Johannes Michael Modeß
ist evangelischer Theologe, Pfarrer und Hochschulseelsorger

Gott und die schrägen Vögel

Ich gebe es zu, diesem letzten schrägen Vogel bin ich nicht persönlich begegnet, sondern in der Literatur. Aber die Begegnung mit ihm hat tiefe Spuren hinterlassen. Romulus Augustus, die Titelfigur aus Friedrich Dürrenmatts Theaterstück „Romulus der Große“. Romulus macht die Schrägheit zum politischen Prinzip. Er scheint ein völlig durchgeknallter Kaiser zu sein, weigert sich, zur Rettung des Reiches seine Tochter klug an einen Hosenfabrikanten zu verheiraten. Im Laufe des Stücks wird aber klar: Der Kaiser unterwandert die jahrhundertelange Tradition des Kriegführens und Mordens für ein „Vaterland“, sein wirrer Regierungsstil ist in Wirklichkeit ein Friedensprojekt.

Friedrich Dürrenmatt, der Romulus und lauter andere schräge Vögel kreiert und zu den Helden seiner Texte gemacht hat, war Pfarrersohn aus dem Schweizer Emmental. Mehr und mehr wurde er zu einem Atheisten, aber dem Denken des Paulus ist er treu geblieben. Figuren wie Romulus halten der Welt einen Spiegel vor, der zeitlos ist: Was ist das für eine Gesellschaft, in der nur Kriegführen, stärker sein, Ellbogen, vorzeigbare Leistungen etwas zählen? Und in der die Friedliebenden mit Schwächen, Ecken und Kanten und als schräge Vögel ausgelacht werden?

Lebenskunst
Sonntag, 4.7.2021, 7.05 Uhr, Ö1

Solidarisch mit schrägen Vögeln

Im 1. Korintherbrief behauptet Paulus um das Jahr 55: Gott selbst hat sich zu einem schrägen Vogel gemacht. Das Schicksal des Jesus von Nazareth, in dem, so der christliche Glaube, Gott erfahrbar geworden ist, das Schicksal des gekreuzigten Gottes also, hält der Welt einen ebenso zeitlosen Spiegel vor. Am Kreuz zeigt sich Gott, der in kein Bild passt, das die Menschen von ihm entworfen haben: in kein Bild, das Gott Stärke, Macht, Überlegenheit über die Gesetze des Lebens behauptet. „Was an Gott als dumm erscheint, ist weiser als die Menschen“, heißt es da im ersten Korintherbrief.

Wer das begreift, wird vielleicht solidarisch mit den schrägen Vögeln im Bus, in der Schule, in der Literatur – schließlich könnte einem, wie ich meine, auch in ihnen etwas von Gott begegnen.