Lebenskunst 25.7.2021, Georg Sporschill

Bibelessay zu Johannes 6,1-15

Vor 30 Jahren kam ich mit drei jungen Freunden in Bukarest an. Unser Auftrag war es, den Straßenkindern zu helfen, die nach dem Zerreißen des Eisernen Vorhangs zu Tausenden aus den berüchtigten Ceaușescu-Heimen auf die Straßen geströmt und auf sich allein gestellt waren.

Wir gingen zur Gara de Nord, zum Nordbahnhof, in Taschen schleppten wir Hilfsgüter mit. Pullis, Schokolade, Äpfel. Ein paar Worte Rumänisch hatte ich auf der Hinreise gelernt. In der düsteren Gegend fielen wir sofort als Ausländer auf. Der erste Blick in die Kanäle, wo die Kinder hausten, war gefährlich. Bettelnde Kinder umringten uns. Unsere Möglichkeiten zu geben waren sofort erschöpft. Da wurden die kleinen Lackschnüffler aggressiv. Wir flüchteten mit leeren Händen. Waren die schönen Träume vom Helfen geplatzt? Gerettet vor der verzweifelten Horde hat uns damals Ivan. Er war einen Kopf größer als die anderen und schrie sie an. Uns deutete er, wir sollten abhauen. Er allein lief uns dann nach. In vertraulichem Ton brüstete er sich als unser Beschützer – und ob wir für ihn noch etwas hätten?

P. Georg Sporschill SJ
ist katholischer Theologe, Pädagoge und Psychologe

Vom Wunder der Brotvermehrung und vom Wunder der Freundschaft

So ist es, wenn du helfen willst. Die Hungrigen sind nicht lieb, sie kämpfen. Was du gibst, ist wie der Tropfen auf den heißen Stein. Hungrigen begegnet Jesus von Nazareth, als er sich auf die andere Seite des Sees von Tiberias wagt, ins fremde Land der damals sogenannten Heiden. Eine große Menschenmenge folgt ihm, weil die Leute erlebt haben, dass er heilen kann. Was tut Jesus? Er setzt sich ins Gras und erklärt seinen Schülern, wie helfen geht, ganz praktisch. Einer von ihnen, Philippus, zweifelt an den Möglichkeiten. Wie sollte man mit so wenig Geld so viele ernähren? Doch ein anderer Jünger, Andreas, hat den Blick für die Lösung. Er zeigt auf einen Buben, der fünf Gerstenbrote und zwei Fische hat. Mit dem Wenigen, das in der Tasche des Kindes ist, wirkt Jesus das Wunder. Fünftausend Familien bekommen zu essen, und es bleibt noch viel übrig. Zwölf Körbe voll. Das ist so viel, dass daraus eine Suppenküche für Straßenkinder wurde. Ivan wurde unser erster Mitarbeiter in Bukarest. Mit ihm verbindet mich heute noch Freundschaft.

Mit 75 Jahren frage ich mich: Was ist das Geheimnis in der Sozialarbeit? Es ist nicht der Erfolg, es sind die Beziehungen, die einem geschenkt werden. Mit Kindern, mit Menschen, die helfen wollen. Das Glück, dass man getragen wird und überraschende Energien spürt, trotz der Überforderung, die einen immer begleitet. Das Geheimnis liegt im Blick des Jüngers, der den Buben sah, der ganz wenig hatte und es hergab. Bei mir war es Ivan, ein Straßenkind, das uns geholfen hat. Ihm verdanke ich, dass ich eine spannende Lebensaufgabe gefunden habe. Und wunderbare Freunde. So erlebe ich die Brotvermehrung.