Lebenskunst 15.8.2021, Mirja Kutzer

Bibelessay zu Offenbarung 11,19 – 12,1-6

Ich kann es aus eigener Erfahrung sagen: Geburten gehören zu den einschneidendsten Erlebnissen, die Frauen im Leben haben können.

Welch eine Urgewalt, wenn Wehen ein Kind durch den Geburtskanal pressen. Wenn die Kontrolle über den eigenen Körper verloren geht. Wenn der Schmerz einen in der letzten Phase überschwemmt, um dann – wenn alles gut geht – der unbändigen Freude Platz zu machen: über das Neugeborene.

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin und Germanistin, Universität Kassel

Weil das Chaos nicht das letzte Wort hat

Diese Urgewalt einer Geburt begegnet in der Bibel in einem ihrer rätselhaftesten Bilder. Die Offenbarung des Johannes schildert ein Zeichen am Himmel. Eine Frau schreit in ihren Geburtswehen. Umgeben ist sie vom Mond unter ihren Füßen und einem Kranz von 12 Sternen über ihrem Haupt. In dieser Anordnung suggerieren die Gestirne eine kosmische Harmonie, deren Teil die von der Sonne bekleidete Frau ist. Doch die Ordnung ist zuhöchst bedroht: In ihrem Inneren wird sie durchbrochen durch die Schmerzensschreie der Frau in der Not der Geburt. Von außen entfalten Gewitter, Beben und Hagelsturm ihre zerstörerische Kraft. Und dann ist da noch der Drache, der einen Teil der geordneten Sterne hinwegfegt und das neue Leben zu verschlingen droht.

In dem Zeichen am Himmel versammeln sich Ordnung und Chaos, Herrlichkeit und Gefahr, Leben und Tod. In ihm spiegeln sich so die Jahrtausende wider, in denen Geburten das größte Lebensrisiko von Frauen sind und kaum etwas so fragil wie das Leben eines Neugeborenen. Wenn am Ende Mutter und Kind wohlauf sind, ist dies jedes Mal auch eine Rettung. So ebenfalls im Bild: Die himmlischen Mächte beschützen die Frau und das Neugeborene vor dem Unwetter wie dem Drachen und bringen sie in Sicherheit.

Lebenskunst
Sonntag, 15.8.2021, 7.05 Uhr, Ö1

Urgewalt der Geburt

Viel wurde gerätselt, wer die Frau in dem kosmischen Bild der Offenbarung ist. Eine prominente Deutung hat in ihr Maria, die Mutter Jesu gesehen. Dass der Text am heutigen Festtag der Aufnahme Mariens in den Himmel in der katholischen Leseordnung steht, unterstreicht diese Interpretation. Daneben gibt es andere: Die Frau stehe für die Kirche oder für Israel als das Volk Gottes. Sie könnte aber auch die Menschheit schlechthin repräsentieren und die Erfahrungen all dessen, was war und was ist, in sich zusammenfassen. Wer die Frau im Text ist, bleibt Gegenstand der Forschung und mag am Ende nicht entscheidbar sein.

Es könnte aber auch schlicht genügen, dieses Bild auf sich wirken zu lassen. Hier, am Ende des christlichen Neuen Testaments, wird anhand der Urgewalt einer Geburt das ganze Chaos des Lebens noch einmal ausgemalt: die Bedrohung durch Natur und Gewalt, die Fragilität und Verletzlichkeit des Menschen. Doch das Chaos hat nicht das letzte Wort. Das Bild geht über in Rettung und Leben, die größtmögliche Schwäche verwandelt sich in höchste Stärke. Das Bild zeichnet so eine Hoffnung, die sich im Text auf Gott richtet und die die Menschen nicht verbürgen können. Und doch ist es eine Hoffnung, die mit der Geburt jedes Kindes neu anhebt.