Lebenskunst 31.10.2021, Thomas Hennefeld

Bibelessay zu Deuteronomium 6, 4-7 (5. Mose 6, 4-7)

„Höre, Israel: Gott ist ein einziger. Und du sollst den Ewigen, Deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft“, heißt es in jener Bibelstelle, die am Sonntag, dem 31. Oktober, in katholischen Kirchen auf dem Leseplan steht.

Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen bleiben, und du sollst sie deinen Kindern einschärfen, und du sollst davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du dich erhebst. (Neue Zürcher Bibelübersetzung)

Schma jisrael adonai elohenu adonai echad!
Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR!

Seit Jahrhunderten beten Juden und Jüdinnen dieses Gebet, am Morgen und am Abend. Sie beteten es in den Gemeinden, in Herrscher-, und Bürgerhäusern, in Ghettos und im Schtetl, in Konzentrationslagern und auf der Flucht. Sie beten sichtbar in der Öffentlichkeit und im stillen Kämmerlein, auswendig, inwendig, in ruhigen und glücklichen wie in stürmischen und todbringenden Zeiten.

Thomas Hennefeld

ist Landessuperintendent der evangelisch-reformierten Kirche in Österreich.

Schma Israel – Höre Israel. In diesem uralten Gebet, das Juden und Jüdinnen über Generationen Halt gab und gibt, und wie ein Fels in der Brandung ist, verschmelzen Weisung und Lehre, Prophetie und Weisheit miteinander zu einem funkelnden Diamanten.

Abseits von Dogmen und Belehrung, lädt das Gebet den Menschen ein, in den Raum des Heiligen einzutreten und Gott zu begegnen, wie Mose im brennenden Dornbusch, oder der Prophet Elia am Eingang der Felsenhöhle in das Heilige gezogen wurde. Die Worte des Ewigen, wie er sie dem Volk Israel und jedem Einzelnen in der Thora geschenkt hat, sind zu beachten und zu befolgen. Sie sind keine Vorschläge, sondern Anordnungen.

Manche Christen und Christinnen nennen diesen Pfad zu einem guten Leben abschätzig und polemisch Gesetzlichkeit und dabei schwingt der harte, drohende und strafende Gott mit. Aber der Kern dieses Gebets ist die Hingabe. Gott ist nicht ein Element im Leben, nicht ein Bereich, den der Mensch pflegt, wie einen Grünstreifen vor dem Haus. Der Glaube, der in diesen Worten durchscheint, durchwirkt das ganze Leben des Menschen.

Der Gott, der hier angebetet wird, ist nicht teilbar. Er fordert die ganze Aufmerksamkeit.

Höre Israel: ein Ausruf, ein Versprechen, eine Ermahnung, eine Liebeserklärung, ein Bekenntnis.

Evangelische Christinnen und Christen feiern heute den Reformationstag. Es ist auch ein Tag des Bekennens. Dieses Bekennen hat auch im Protestantismus eine lange Geschichte. Das erste Gebot nach reformierter Tradition lautet: Ich bin der HERR, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Es nimmt Bezug auf die Geschichte des Volkes Israel und den befreienden Gott. Das Bekennen wird zum Glaubensakt. Es beinhaltet die Absage an alle selbsternannten Autoritäten, an Führer und Herrscher aller Art. Es sieht im anderen Menschen den Bruder oder die Schwester. Wer den einen Gott bekennt, fällt vor keinem anderen Menschen nieder, verfällt keinen Ideologen, Blendern oder Scharlatanen.

Für mich ist dieses Bekenntnis auch eine Absage an die Überlegenheit einer Religion über andere Religionen. Das scheint paradox. Dieser Gott, wie er uns in der Bibel begegnet, der ist eben ein Gott, den niemand allein für sich beanspruchen kann. Er ist unverfügbar. Es ist der Gott, der in kein Bild zu fassen ist. Dieser Gott hat den Menschen erschaffen, hat sich ein Volk erwählt als Werkzeug, um durch dieses alle Völker zu segnen.

Der Jude Jesus hat auf die Frage eines Pharisäers, welches das höchste Gebot sei, in einem innerjüdischen Streitgespräch auf die Thora verwiesen und dabei nichts anderes gesagt, als in der Thora steht: Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten, wie dich selbst. Das ist es, was der Eine und Ewige von uns fordert. Dieses Gebot zu erfüllen von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit ganzer Kraft.