Lebenskunst 7.11.2021, Johannes Modeß

Wie Frieden klingt – Bibelessay zu Psalm 85

Um die Sehnsucht nach einem Friedensreich, das die jüdische und christliche Tradition „Reich Gottes“ nennt, drehen sich jene Texte, die am Sonntag, 7. November, in evangelischen Kirchen zu hören sind.

Psalm 85

2 HERR, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande und hast erlöst die Gefangenen Jakobs;
3 der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk und all ihre Sünde bedeckt hast; – Sela –
4 der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:
5 Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!
6 Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für?
7 Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann?
8 HERR, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil!
9 Könnte ich doch hören, was Gott der HERR redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, auf dass sie nicht in Torheit geraten.
10 Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne;
11 dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
12 dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
13 dass uns auch der HERR Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe;
14 dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge.

Wie Frieden klingt

Der Friedensforscher Dieter Senghaas beschäftigt sich in verschiedenen Texten mit der Frage, wie Frieden klingt. Er klopft die Musikgeschichte auf Momente des hörbaren Friedens ab. Seine Arbeiten zeigen, dass viele unserer ersten Impulse, auf die Frage zu antworten, zu kurz greifen.

Manchmal wollen wir den Frieden in der Stille finden, im gleichmäßigen Rauschen des Meeres vielleicht oder im engelsgleichen Gesang von Kinderchören. Senghaas hingegen entdeckt in der Musikgeschichte ganz andere Friedensklänge. Ein wesentliches Motiv ist da etwa die Fürbitte um den Frieden. Es ist Musik, die um die Spannung weiß: Frieden gibt es schon, als Sehnsucht, Frieden muss aber immer noch werden.

Johannes Modeß

ist evangelischer Theologe und Hochschulpfarrer für Wien und Österreich.

Um die Sehnsucht nach einem Friedensreich, nach dem Reich, das der Jude Jesus „Reich Gottes“ nennt, drehen sich auch jene Texte, die heute in evangelischen Kirchen gelesen, gebetet und ausgelegt werden. Als Predigttext ist dabei ein Psalm vorgesehen, also ein Gebet von Menschen aus alttestamentlicher Zeit.

Das ist überraschend, denn Psalmen gehören zwar als gebetete Texte zum Standard-Repertoire evangelischer Gottesdienste, aber sie in der Predigt auszulegen, das gibt es in der evangelischen Tradition erst seit Kurzem. Schließlich ist es risikoreich, Gebete, also: ganz persönliche Zeugnisse des Redens und Ringens mit Gott zu interpretieren. Aber die unverwechselbaren Bilderwelten der Psalmen machen die Auslegung auch zu einem lohnenswerten Unterfangen, und das auch in Psalm 85.

Frieden, wie er in Psalm 85 vorgestellt wird, ist der Geliebte der Gerechtigkeit. Sie küssen sich. Gott, der den Frieden bringt und den man um Frieden anrufen kann, umgibt sich mit Gerechtigkeit wie mit Bodyguards. Die Gerechtigkeit geht vor dem Gott des Friedens her und folgt ihm auf Schritt und Tritt. Sie schützt den Frieden vor allen, die es sich mit ihm zu leicht machen wollen.

Wer sich in die Bilderwelt von Psalm 85 hineinziehen lassen kann, wird vielleicht eine Idee davon bekommen, wie Frieden auch klingen kann. Wo Frieden klingt, wie ein fauler Friede; wo man dem Frieden anhört, dass es ihn nur auf Kosten verdrängter Konflikte gibt; wo er allzu lieblich daherkommt, da werde ich skeptisch. Kann ein Friede, der die Gerechtigkeit geküsst hat, friedlich klingen? Oder anders gefragt: Wie klingt denn nun der Friede, der die Gerechtigkeit küsst?

Ich habe für mich die Antwort nach dem Klang des Friedens gefunden. Und zwar bei einem, dessen Todestag sich in der kommenden Woche zum 153. Mal jährt: Gioachino Rossini. Am Ende seiner „Petite Messe sollenelle“ schreit der Chor förmlich sein „Dona nobis pacem“. Er hämmert dem Publikum ein: manchmal muss der Schrei nach Frieden die schreienden Ungerechtigkeiten in der Welt übertönen. Ich als Christ hoffe, dass dieser Schrei nicht unbeantwortet bleibt, sondern dass die Gerechtigkeit vom Himmel auf die um Frieden ringenden Menschen herabschaut und letztlich Frieden bringt.