Essay von Ludwig Laher

Siegfried Charoux – Zum 125. Geburtstag

1939 wurde Siegfried Charouxs Lessingdenkmal auf dem Wiener Judenplatz abgetragen und später vernichtet. Charoux sei Jude, und dem Werk mangle es an künstlerischer Qualität, meinten die Nazis. Beides war falsch.

Der langgehegte Plan eines Standbildes für den großen Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing sollte zu dessen 200. Geburtstag 1929 endlich in die Tat umgesetzt werden. Ein junger Bildhauer, Maler und bis 1928 auch bekannter Karikaturist gewann die Ausschreibung bei über 80 Einreichungen. Nach Überwindung vieler Hindernisse wurde der große Bronzeguss Siegfried Charouxs aber erst 1935 mitten im Ständestaat enthüllt, der seinerseits keine große Freude mit Lessing hatte. „In unserer Zeit, wo so viel Haß aufgespeichert ist“, hieß es damals merkwürdig aktuell und beziehungsreich in der Eröffnungsrede, werde damit an ein von Humanität geprägtes Weltbürgertum erinnert.

Siegfried Charoux, lediges Kind einer Kleidermacherin, kam vor genau 125 Jahren, am 15. November 1896 in Wien auf die Welt. Nach einer Jugend in Armut und einer schweren Weltkriegsverwundung begann er ein Kunststudium. Schon Anfang der 1920er verdiente Charoux sich daneben einen Teil des Lebensunterhalts als politischer Karikaturist in verschiedenen Zeitungen.

Ludwig Laher

ist Schriftsteller.

Früh warnte der linke Humanist vor den Nazis, er nahm den politischen Katholizismus genauso aufs Korn wie die schlagenden Burschenschaften oder Mussolinis wachsenden Einfluss in Österreich. Er geißelte in ästhetisch anspruchsvollen, prägnant getexteten Zeichnungen konservative Versuche, den Mieterschutz abzuschaffen, Vetretern rechter Parteien legte er in den Mund, streikende Frauen als letztes Aufgebot schwacher Gewerkschaften zu deuten.

Schon wenige Monate nach der Enthüllung des Lessing-Denkmals verließen Charoux und seine jüdische Frau aus weiser Vorsicht Österreich. In London, wo er den langen Rest seines Lebens wohnte, konzentrierte er sich zunächst auf die Malerei. Bei Kriegsausbruch wurde er wie viele andere den Nazis Entkommene eine Zeitlang als enemy alien auf der Insel Man interniert. Bald schon etablierte Charoux sich aber auch jenseits des Ärmelkanals als bildender Künstler, wurde Brite und 1956 Mitglied der Royal Academy of Arts.

Von Auftragswerken, vor allem Prominentenporträts, konnte er leben, daneben entwickelte er in den 1950ern einen unverwechselbaren Stil, von dem man sich im niederösterreichischen Langenzersdorf-Museum, das seinen Nachlass betreut, einen Eindruck machen kann.

Seine Gestalten – und er hat sich mit Ausnahme einer kurzen Phase nie vom Gegenständlichen wegbewegt – wirken jetzt mehr und mehr stilisiert, expressiv, zuweilen kubistisch angehaucht. Nicht selten spart er Teile des Gezeigten völlig aus. Die lebensgroße Plastik „Der Zeitungsleser“ etwa konfrontiert den Betrachter mit einer männlichen Gestalt, die ein riesiges Format vor sich ausgebreitet hält, das freilich nur aus einem leeren Rahmen besteht, der die Zeitung und vielleicht auch deren mangelnden Informationsgehalt andeutet.

„Der Richter“ wiederum, sonst vollständig ausgeformt, trägt eine typisch britische Perücke, aber keinen Kopf auf seinem Rumpf. Auch in der Malerei entwickelt Charoux nun seine volle Meisterschaft. Obwohl er daneben andere Motive wählt, sind es vor allem die Menschenbilder, die durch ihre Dynamik und den virtuosen Malstil bestechen, wie etwa das Ölbild „Orchester und Dirigent“.

Zeitlebens war Siegfried Charoux ein kritischer Beobachter, ein im weiteren Sinne politischer Künstler. Oft steht bei ihm aber auch das Zwischenmenschliche, die Sehnsucht nach Harmonie und Zugewandtheit im Mittelpunkt. Gerade in den späten Dreißigern und während des Zweiten Weltkriegs fällt auf, dass viele seiner Arbeiten nackte Menschen zeigen, ausgesetzt, aber paarweise einander zugetan, die Köpfe oder andere Körperteile ganz ohne sexuelle Konnotation aneinandergeschmiegt, wie bei der Terrakotta-Plastik „Freunde“, von der ein Bronzeabguss im Theodor-Körner-Hof in Wien 5 existiert.

Mit dem für ihn durch die prägenden Erfahrungen der Kanzlerschaft Ignaz Seipels und später des Ständestaats diskreditierten politischen Christentum verbindet Charoux vor allem die Ikonographie, die er sich gelegentlich für seinen humanistischen Einsatz zueigen macht.

Eine Terrakotta-Pieta aus 1943 zum Beispiel, unzweifelhaft ein Hauptwerk, präsentiert eine nackte Hockende mit schmerzerfülltem Gesicht seitlich nach oben blickend, vor sich ein vielleicht achtjähriges nacktes Kind, dessen Kopf sie in der linken Hand birgt, seinen schlaffen Oberkörper mit dem abgerissenen linken Unterarm auf den Oberschenkel gestützt.

Das expressive Gemälde „Karfreitag“ wiederum zeigt drei Gekreuzigte vor einem dunklen Gewitterhimmel und einer dramatisch ausgeleuchteten, aus den Fugen geratenen Welt. Man muss schon genau hinschauen, um auf dem Kopf der zentralen Gestalt im Vordergrund, die den Platz von Jesus Christus einnimmt, den Stahlhelm zu entdecken.

Siegfried Charoux, der in den 50er und 60ern auch in Österreich wieder Projekte realisierte, starb 1967 in London. Die Einweihung seines zweiten Lessingdenkmals auf dem Judenplatz sollte er nicht mehr erleben. Dem neuen Lessing fehlt die Selbstgewissheit seines zerstörten Vorgängers. Kein Wunder. Er scheint nach innen zu blicken.