Lebenskunst 5.12.2021

Bibelessay zu Jesaja 63,15 – 64,3

Heute brennt bei vielen Menschen die zweite Kerze am Adventkranz. Die erste Woche ist bereits vergangen. Es ist eigenartig mit der Zeit und mit dem Warten – die Bibel nennt es „harren“ – auf das Weihnachtsfest – Bibelessay zu Jesaja 63,15 – 64,3.

Für die einen zerrinnt die Zeit zwischen den Händen, den anderen scheint die Zeit nicht zu vergehen und zu einem unendlichen Meer zu werden. So erging es mir als Kind in der Adventzeit. Das scheint eine typische Erfahrung von Kindern zu sein, dass die Zeit im Warten auf Weihnachten nicht vergehen will. Denn auch für meine Enkelkinder ist das schwierigste an Weihnachten das Warten.

Marco Uschmann

ist evangelischer Theologe, Pfarrer und Journalist.

Da helfen Hilfsmittel ein wenig, die diese scheinbar unendliche Zeit versüßen. Sei es der Adventkalender, sei es der Adventkranz. Und die zweite Kerze ist besser als die erste, denn ein bisschen der Zeit ist schon geschafft. Nun gibt es aber manche Adventkränze, bei denen heute bereits die achte Kerze brennt: Es sind die originalen Adventkränze, wie die evangelische Hilfsorganisation Diakonie sie verteilt.

Erfunden wurde der Adventkranz von einem, der professionell mit Kindern zu tun hatte: Der evangelische Pfarrer Johann Hinrich Wichern hatte bei Hamburg in Norddeutschland 1833 das sogenannte Rauhe Haus gegründet. Hier betreute er Straßenkinder und gab ihnen mit seinem Team ein neues und gutes Zuhause.

Aber jedes Jahr in der Adventzeit gingen ihm die Kinder auf die Nerven, weil sie wissen wollten, wie lange es noch dauert bis Weihnachten. In seiner Not hatte Wichern einen Geistesblitz: Er nahm ein Wagenrad und montierte darauf so viele Kerzen, wie es Tage vom ersten Advent bis zum Heiligen Abend waren. Die Sonntage haben weiße Kerzen, die Wochentage rote. Daher finden sich auf diesem originalen Adventkranz jedes Jahr unterschiedlich viele Kerzen.

Heuer brannte die erste Kerze auf diesem Adventkranz am vergangenen Sonntag – und daher zündet man heute die 8. Kerze an. Diese Adventkränze verteilt die Diakonie seit Jahren schon in Kindergärten, Schulen – aber auch bei Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen, im Nationalrat oder in Ministerien. Auch dem Bundespräsidenten übereichen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie alljährlich einen dieser originalen Adventkränze. Ein Minister hat bei einer Übergabe des Adventkranzes einmal gesagt: „Es ist immer das Schönste in der Adventzeit, wenn Sie zu uns kommen, Weihnachts- und Adventlieder spielen und den Adventkranz bringen. Dann zieht ein Hauch von Weihnachten bei uns ein.“

Das Warten auf Weihnachten, das Harren, wie es die Bibel nennt, fällt den Menschen schwer. Davon schreibt ja der Prophet Jesaja. Dieses Warten bekommt in einem Lockdown, wie wir ihn gerade wieder erleben und abwarten, eine neue Bedeutung. Denn so ein Lockdown kann sich ganz schön ziehen: So viel habe ich mir vorgenommen, so viel muss vor Weihnachten noch erledigt sein. Das geht jetzt alles nicht. Vielleicht hilft da der Blick auf die zwei – oder acht – Kerzen ein wenig: Es ist schon einige Zeit geschafft – im Lockdown und auch in der Zeit des Wartens auf das Weihnachtsfest. Das tröstet die einen und vielleicht auch die anderen. So wie es Jesaja sagt, dass Gott denen wohltut, die auf ihn harren.