Lebenskunst 19.12.2021, Mirja Kutzer

Bibelessay zu Mi 5,1-4a

Es gehört zu den Ganggesprächen mit meiner Kollegin, der Bibelwissenschaftlerin Ilse Müllner, sich über Texte wie diesen auszutauschen. So wie wir beide die Passage aus dem Buch des Propheten Micha einst kennengelernt haben, ist sie ein zutiefst christlicher Text.

Er wird heute, am vierten Adventssonntag in katholischen Kirchen gelesen, weil er die Geburt Jesu‘ voraussagt – so jedenfalls hat das Matthäusevangelium diese Passage interpretiert. Das Kind, das in Bethlehem geboren wurde und das Christinnen und Christen als den Messias bekennen, ist in dieser Lesart eben der Friedensbringer, den der Prophet Micha angekündigt hat.

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin und Germanistin, Universität Kassel.

Für das frühe Christentum waren solche Verweise auf die Heiligen Schriften Israels eine Art und Weise, die Autorität von Jesus von Nazareth zu untermauern. Der Weg funktioniert aber auch umgekehrt: Weil nach dieser Lesart Jesus in den überlieferten Schriften schon enthalten ist, sind die heiligen Texte des Volkes Israel nicht einfach veraltet und zu verwerfen.

Es sind vielmehr auch für Christinnen und Christen heilige Texte – von demselben Geist inspiriert, von dem sich die junge Kirche getragen fühlt. Die prophetischen Verheißungen bilden die Verbindung, durch die die Schriften Israels zum christlichen Alten oder Ersten Testament werden konnten.

Und doch treibt es meine Kollegin und mich in unseren Ganggesprächen um, wie problematisch diese christliche Rezeption ist. Sie ist Teil einer Enteignungsgeschichte. Es ist die Geschichte des christlichen Antijudaismus, in der die Kirche behauptet hatte, sie hätte das Volk Israel als auserwähltes Volk abgelöst. In der Folge wurden auch die Verheißungen an das Volk Israel umstandslos als Verheißungen an die Kirche gelesen. Israel, das Judentum, ist – in der Rückschau – lediglich eine Vorstufe und damit letztlich bedeutungslos. Es ist kein Wunder, dass Jüdinnen und Juden Vorbehalte haben gegenüber dieser christlichen Aneignung, und das nicht nur, wenn wir auf die verheerenden Auswirkungen des Antijudaismus sehen.

Aus meiner christlichen Perspektive gefragt: Gehört uns als Christinnen, Christen diese Bibel des Volkes Israel überhaupt in einer Weise, so dass wir sie als unsere Bibel lesen können? Fraglos stellt sich diese Lesehaltung ein, wenn wir von Abraham und Mose, von David oder Ruth lesen. Vielleicht sind wir aber doch nur Fremde in der Bibel, Mitglieder anderer Völker, die zum Volk Israel hinzutreten? Die sich mit ihm irgendwann vereinen zur Völkerwallfahrt auf den Berg Zion, die auch der Prophet Micha ankündigt? Dann, wenn endlich Frieden und Gerechtigkeit sein wird?

Fremde zu bleiben ist nicht so ganz befriedigend – jedenfalls nicht für christliche Leserinnen wie meine Kollegin Ilse und mich. Und zeigt gleichzeitig, wie viel unser Umgang mit Texten mit Geschichte und mit Gegenwart zu tun hat. Manche Spannungen lassen sich nicht auflösen, schon gar nicht in Ganggesprächen oder Radioessays. Manchmal ist es dennoch wichtig, sie zu benennen. Gut, dass wir darüber gesprochen haben.