Lebenskunst 2.1.2022, Robert Jonischkeit

Bibelessay zu Jesaia 49, 13-16

Mitten in allen Krisen der Gegenwart trifft mich das Wort des Propheten Jesaja ins Herz. Ich fühle mich von seinen Worten, die er vor über 2.500 Jahren an das Volk Israel gerichtet hat, hier und heute ganz direkt angesprochen.

Dass ich Jesaja auch nach so langer Zeit so gut verstehen kann, hat zwei Gründe. Der erste besteht darin, dass Martin Luther mit seiner Bibelübersetzung die Grundlage dafür geschaffen hat, dass ich diesen alten Text, der ursprünglich auf Hebräisch verfassten Schriftrollen tradiert wurde, überhaupt lesen kann. Vor genau 500 Jahren erschien mit der sogenannten Septemberbibel die erste Lutherübersetzung des Neuen Testaments mit insgesamt 21 Illustrationen von Lucas Cranach.

Da für Luther das Hebräische einen hohen Stellenwert hatte und er in seiner Übersetzung großen Wert sowohl auf Sprachgenauigkeit als auch auf Verständlichkeit legte, sollte es noch weitere 12 Jahre dauern, bis auch das Alte oder Erste Testament auf Deutsch vorlag.

Robert Jonischkeit
ist evangelischer Superintendent im Burgenland

Lesen können bedeutet aber noch nicht verstehen. Der zweite Grund dafür, dass ich mich diesem alttestamentlichen Propheten so nahe fühle, liegt darin, dass er in Zeiten größter Not eine so optimistische und hoffnungsvolle Botschaft für seine Landsleute hat. Auf die Klagen seines Volkes, das in Babylon fern der Heimat im Exil lebte, antwortet er mit Jauchzen, Freude und Lob und verspricht Trost und Erbarmen.

Davon könnten wir auch in Zeiten wie diesen durchaus mehr brauchen. Eine solche Botschaft würde aber auch heute wie damals Kopfschütteln und Unverständnis hervorrufen. Wer sich von Gott verlassen fühlt, dem ist nun einmal nicht nach Jauchzen und Jubeln.

Jesaja bleibt aber dabei und verwendet zwei wunderschöne Bilder, um auch den Menschen in Not den Trost und die Liebe Gottes zu vermitteln. Er vergleicht Gott mit einer liebenden Mutter, die sich nie im Leben von ihrem Kind abwenden würde. Auch nicht in schwierigen Zeiten, weder während der kindlichen Trotzphase noch in der Pubertät. Und auch wenn die Menschen manchmal glauben mögen, von Gott verlassen zu sein, ist er immer für sie da, davon bin ich überzeugt. Wie eine liebende Mutter für ihr Kind.

Das zweite Bild erinnert mich an die Spickzettel in meiner Schulzeit. Um mathematische Formeln nicht zu vergessen, habe ich sie mir vor einer Schularbeit auf die Hand geschrieben. Wenn Gott hier durch Jesaja zu Jerusalem sagt: „Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet, deine Mauern sind immerdar vor mir“, dann meint er genau das. Gott, so könnte man sagen, hat sich eine Erinnerungshilfe gemacht, er hat die Menschen immer vor Augen. So kann er sie gar nicht vergessen. Damals nicht und heute auch nicht. Dieser Glaube und diese Überzeugung machen mich zu einem fröhlichen Menschen. Allen persönlichen, gesellschaftlichen und globalen Krisen zum Trotz.

In diesem Bewusstsein zu leben, stellt mich vor eine ganz konkrete Frage: Wer ist in meine Hand gezeichnet? Wen habe ich immer vor Augen? Sowohl die Hebräische Bibel als auch Jesus von Nazareth haben eine Antwort darauf: „Deinen Nächsten!“ Den, mit dem du gerade zu tun hast. Den, der deine Hilfe jetzt gerade am meisten benötigt. Wenn einem das gelingt, meine ich, dann jauchzen die Himmel und dann freut sich die Erde!