Lebenskunst 1.1.2022, Anton Leichtfried

Bibelessay zu Num 6, 22-27

Das neue Jahr liegt vor mir wie eine frisch verschneite Winterlandschaft. Noch ganz unberührt. Welche Wege werde ich gehen, frage ich mich, welche Spuren hinterlassen? Wieviel werde ich alleine gehen, welche Strecken mit anderen? Welche Wege werden sich kreuzen?

Die einen schauen voller Freude auf das neue Jahr und können es nicht mehr erwarten, andere voller Bange oder resigniert oder abgestumpft gleichgültig. „Ein gutes neues Jahr!“ wünscht man sich heute. Und viele fügen hinzu: „Und vor allem Gesundheit!“ Damit berührt man freilich Bereiche, die wegführen von der Oberfläche des Lebens und die man nicht einfach im Griff hat. Das kann aufmerksamer und dankbarer machen. Was ist schon selbstverständlich im Leben?

Glaubende Menschen bitten – manchmal wie von selbst, manchmal aus großer Not, manchmal für andere, vor allem aber getragen von einem großen Vertrauen – um den Segen Gottes. So auch für das eben beginnende Jahr. Eine besonders feierliche und altehrwürdige Segensbitte ist in der Bibel im Buch Numeri überliefert: der sogenannte Aaronssegen. Er wird bis heute nicht nur im Judentum, sondern auch gerne in der evangelischen und katholischen Kirche verwendet.

Anton Leichtfried
ist Weihbischof der Diözese St. Pölten.

Im hebräischen Original steigern sich in den drei Sätzen die Bitten schon rein äußerlich: erst sind es drei Wörter, dann fünf und schließlich sieben. Der HERR segne dich und behüte dich. – Die vielen Sorgen, Gefahren, Nöte, das rasante Tempo der Arbeitswelt und der Kommunikation – da erwächst die Bitte, behütet zu sein, für sich selber und für die Mitmenschen.

Gott lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. – Woher kommt Licht? Kosmisch, technisch und erst recht im menschlichen Zusammenleben? Eine Antwort darauf findet sich im Psalm 36, wo es heißt: In deinem Licht, o Gott, schauen wir das Licht.

Der HERR wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden. – Wie kostbar ist in der gerade jetzt oft so technischen oder virtuellen Welt spürbare menschliche Zuwendung. Hier die Bitte, zu erfahren, wie Gott sein Angesicht mir zuwendet. Und die Bitte um Frieden. Das biblische Wort „Schalom“ meint viel mehr als bloßen Waffenstillstand. – Aber in vielen Gegenden der Erde wäre das der wichtigste Fortschritt! Und für wie viele Beziehungen gilt das genauso! Umso mehr das Geschenk des inneren Friedens: ein kostbares, zerbrechliches Gut!

So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen. Das geht natürlich nicht im wörtlichen Sinn, erst recht nicht magisch. Der im Judentum heilige und aus Ehrfurcht nicht ausgesprochene Name Gottes, in dem sich Gott dem Mose offenbart mit der Zusage für alle Nöte und Krisenzeiten: Ich werde für euch da sein. Ich meine: Diese Zusage Gottes ist der große Segen für die Wege des Lebens. Für meine und für die Wege jener Menschen, denen ich begegnen werde im neuen Jahr, das noch vor mir liegt wie eine frisch verschneite Winterlandschaft.