Lebenskunst 23.1.2022

Bibelessay zu Nehemia 8, 2-4a.5-6.8-10

Die Bibel bewegt im Idealfall die Gemüter, sie lässt nicht gleichgültig. Die Menschen weinen, als sie die Worte der Schrift hören, heißt es im Text.

Zum heutigen Text habe ich eine besondere Beziehung. Privat, aber vor allem beruflich. Er enthält ja – wie wenig andere – zentrale Aspekte meiner Aufgabe als Bibelvermittlerin. Und ich freue mich, dass in der katholischen Kirche dieser Text heute, am weltweiten Sonntag des Wortes Gottes, den Papst Franziskus am 30. September 2019 Jahren ins Leben gerufen hat, als erste Lesung gelesen wird.

Elisabeth Birnbaum
sie ist katholische Theologin, Bibelwissenschafterin und Direktorin des österreichischen Bibelwerks

Der Text schildert die Zeit nach dem Babylonischen Exil im 6. Jahrhundert vor Christus: Israel ist aus dem Exil wieder in sein Land zurückgekehrt, Jerusalem und der Tempel sind wieder aufgebaut und nun wird gemeinsam gebetet und die Tora, die Heilige Schrift, verlesen. Ein schönes Beispiel für einen Wortgottesdienst.

Drei Aspekte fallen mir besonders auf:
Erstens: Mehrfach wird betont, dass die Tora allen vorgelesen wird, die schon mit Verstand zuhören konnten. Das Hören der Bibel erfordert also ein gewisses Maß an Reife und natürlich die Bereitschaft auch wirklich zuzuhören.

Zweitens: Die Tora wird nicht nur vorgelesen, sondern abschnittsweise erklärt, „sodass die Leute das Vorgelesene verstehen konnten“, wie es in Vers 8 heißt. Das finde ich äußerst wichtig. Es ist ja auch heute nicht selbstverständlich, dass jeder und jede ein Jahrtausende altes Buch, das noch dazu ursprünglich auf Hebräisch und Griechisch geschrieben wurde, ohne Weiteres verstehen kann. Es braucht dazu ein gehöriges Maß an Übersetzungsarbeit: nicht nur in die heutigen Sprachen, sondern auch in die heutige Kultur und darüber hinaus in das je eigene Denken und Leben.

Wenn ich anderen die Bibel näherbringen will, muss ich sie also nicht nur vorlesen, sondern auch anderen verständlich machen, ins Heute übersetzen, natürlich ohne das Damals dabei zu verraten. Sonst würde der Traduttore, der Übersetzer, zum Traditore, zum Verräter, wie ein schönes Bonmot lautet.

Und drittens: Bibel bewegt im Idealfall die Gemüter, sie lässt nicht gleichgültig. Die Menschen weinen, als sie die Worte der Schrift hören, heißt es im Text. Offenbar sind sie erschüttert, vielleicht weil das, was sie hören, so sehr im Gegensatz zu dem steht, was sie tun. Doch die Schriftgelehrten mahnen sie stattdessen zur Freude. Denn Bibel hören, verstehen und sie ins eigene Leben integrieren zu können, ist ein freudiges Ereignis und soll gemeinsam und in Solidarität mit anderen gefeiert werden, sagen sie.

Papst Franziskus hat den Sonntag des Wortes Gottes genau deshalb ausgerufen: um die Freude an der Bibel zu stärken. Und um alle Gläubigen zu ermutigen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten für andere und mit anderen die Bibel verständlicher zu machen. Damit die Bibel nicht nur gehört, sondern auch verstanden wird. Und damit dieses Verstehen zur gemeinsamen und solidarischen Freude führt. Dazu versucht das Österreichische Katholische Bibelwerk seinen Beitrag zu leisten.