Lebenskunst 5.6.2022, Markus Meyer

Bibelessay zu Ezechiel 37, 1-14

Prophet:innen-Worte zum Pfingstsonntag – Nur wer die Hoffnung in sich spürt, ist lebendig. „Da sagte er zu mir, sprich als Prophet über diese Gebeine und sag zu ihnen: Ihr ausgetrockneten Gebeine, hört das Wort Gottes (…): Ich gebe Geist in euch, sodass ihr lebendig werdet“, heißt es in einer jener Lesungen, die in der katholischen Kirche für Pfingsten vorgesehen sind

6. Jahrhundert vor der üblichen Zeitrechnung. Jerusalem ist niedergebrannt, der Tempel zerstört, die Bevölkerung ins Babylonische Exil deportiert. Ezechiel, der hebräische Name bedeutet so viel wie „Gott möge Kraft geben“ oder „Gott ist mächtig“, der Prophet Ezechiel also beschreibt die desolate Situation seines Volkes in einem visionären Bild: eine endlose Wüstenlandschaft, eine Ebene, deren Boden voller menschlicher Knochen liegt. Es müssen hunderte, tausende sein. Eine öde Knochenlandschaft.

Markus Meyer
ist Schauspieler und Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters

Ein erschreckendes Bild, das jedoch nicht erschreckend bleiben wird.

Denn Ezechiel bekommt von Gott den Auftrag, als Prophet den toten Leibern das Wort und den Geist des Herrn zu bringen, um sie so wieder lebendig werden zu lassen. Mit der Vision des Propheten Ezechiels verspricht Gott dem israelitischen Volk: Ich werde euch aus eurer Starre, eurer Hoffnungslosigkeit herausholen und euch wieder zuversichtlich und sehnsuchtsvoll in eine neue Zukunft, auf ein neues Leben blicken lassen.

Was sagt mir diese Vision heutzutage?

Auch ich kenne Situationen in meinem Alltag, in denen ich mich wie abgestorben, leblos fühle:

  • Ein Mensch, den ich liebe, ist mit einer schweren Krankheit konfrontiert.
  • Mein Beruf stellt mich vor neue Herausforderungen,
    die ich scheinbar nicht bewältigen kann.
  • Eine Beziehung verlangt eine Entscheidung von mir und setzt mich unter Druck.

Lebenskunst
Sonntag, 5.6.2022, 7.05 Uhr, Ö1

In solchen Situationen bin ich verzweifelt, fühle mich leer, erstarrt, sehe keinen Ausweg mehr, keine Hoffnung für die Zukunft.

Wie kann ich es schaffen, dieser Situation zu entkommen, aus dieser „inneren Ödnis“ aufzustehen ?

Die kraftvollen Bilder der Vision Ezechiels zeigen mir anschaulich, wie Aufstehen, Auferstehen möglich sein kann:
Zunächst führt die Hand des Herrn den Propheten hinaus auf eine Ebene, hinaus aus den gewohnten Räumen, aus der gewohnten Perspektive, und versetzt ihn so in die Lage, die Situation seines Volkes im Exil offen und neu zu sehen.
Ezechiel sieht über die ganze Ebene viele Gebeine zerstreut: abgestorben, ausgetrocknet, unbeweglich, leblos. Es bleibt ihm nicht erspart, an all diesen Gebeinen vorbeizugehen. Der schmerzliche Anblick der Leichen ist unvermeidlich.

Es scheint ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens zu sein, dass wir bisweilen aus der „Normalität“ herausgerissen werden: plötzlich gilt nichts mehr von dem, was uns zuvor Halt gegeben hat. Wir stehen allein und verletzlich vor den Scherben unseres Lebens, schauen neu auf unser Leben, und werden mitunter mit Themen konfrontiert, vor denen wir unsere Augen lange Zeit verschlossen haben, mit den „Leichen unseres Lebens“, dem Verdrängten: seien es Ängste, Versäumnisse, egoistisches Verhalten.
Doch wie soll man damit umgehen?
Man kann andere anklagen, ihnen die Schuld dafür geben; oder man klagt sich selbst an, macht sich selbst nieder; oder man versinkt in Selbstmitleid.

Doch ich meine, all dies ist keine befriedigende Lösung, keine wirkliche und ehrliche Antwort.
Erst wenn man das Verdrängte annimmt und sich ihm offen stellt, hat man die Möglichkeit, etwas zu verändern, etwas wieder in Bewegung zu setzen.

Lebenskräfte entstehen

Und tatsächlich: die toten Gebeine bewegen sich aufeinander zu, sie geben sich gleichsam einen Ruck, rücken zusammen. Lebenskräfte entstehen: die Knochen werden mit Fleisch und Blut angereichert, mit Sehnen versehen, mit Haut bedeckt. Die toten Leiber werden wieder menschlich.
Doch etwas fehlt ihnen noch, etwas Entscheidendes: sie brauchen noch den Atem neuen Lebens: ein neuer Geist ist nötig, eine neue Be-geisterung. Der Geist, die ruah Gottes ( im Hebräischen steht das Wort auch für Atem, Hauch und Leben), bewirkt, dass die Gebeine wieder lebendig werden, dass sie aufstehen, auferstehen. ==

„Aufstehen“, „Auferstehung“ ist möglich – und zwar an jedem Tag.

Für mich meint „Auferstehen, Auferstehung“: die Momente im Leben, in denen mir sichtbar gemacht wird, was Leben in seiner Gesamtheit ist, die mich hoffen und vertrauen lassen auf die Kraft Gottes.
Ich habe eine solche Erfahrung ganz bewusst das letzte Mal vor ein paar Wochen gemacht, als der Arzt mir sagte, mein Hund hätte die schwere Operation unverhofft überstanden.

Wir werden täglich konfrontiert mit Kriegen, Schlachtfeldern, Umweltzerstörung, Krankeit, Tod und verfallen schnell in Hoffnungslosigkeit, Depression, Schwarzmalerei. Das ist verständlich, das ist menschlich. Doch Gott zeigt uns auch die Hoffnung und das Leben: Das kann ein Lächeln meiner schwerkranken Mutter sein, der Anblick eines blühenden Baumes an einem regnerischen Tag, die vielen helfenden Menschen in Kriegsgebieten.
An uns liegt es, wohin wir unseren Blick richten: auf das Dunkel oder das Licht, auf den Tod oder das Leben. Es ist unsere Entscheidung.

Ezechiel lädt mich ein, an die Hoffnung, an das Leben zu glauben.