LEBENSKUNST, 3.7.2022, Lars Müller-Marienburg

Bibelessay zu Hesekiel 18, 1-4.30-32

Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden

Es ist das frühe 6. Jahrhundert vor Christus. Das Königreich Juda (der südliche Teil des heutigen Israel) hat sich in einem Anflug von Größenwahn auf einen Krieg eingelassen. Er ist verloren gegangen – so wie es die Propheten schon immer vorausgesagt hatten. Die Elite des Volkes wurde ins Exil nach Babylon verschleppt. Unter ihnen auch der Prophet Hesékiel. Dort in Babylon erhält er Visionen von Gott und entwickelt eine Theologie, die den Menschen im Exil ihre Hoffnung erhalten soll.

Lars Müller-Marienburg
ist protestantischer Theologe und Superintendent der evangelischen Diözese Niederösterreich

An mehreren Stellen in seinem Buch reagiert Hesékiel auf Sprichwörter. Eines davon scheint besonders bekannt gewesen zu sein (man findet es auch im Buch des Propheten Jeremia): „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne stumpf geworden.“ (Oder in Anlehnung an ein modernes Sprichwort: „Die Vorfahren haben die Suppe eingebrockt, aber die Jungen müssen sie auslöffeln.“) Ein ganzes Kapitel lang schreibt Hesékiel, dass dieses Sprichwort nicht stimmt. (In der Bibelstelle waren gerade eben Auszüge davon zu hören.) Sondern: Bei Gott gibt es immer einen Neuanfang. Egal, was die Vorfahren oder die Führer des Volkes gemacht haben: Es gibt Hoffnung.

Auch wer jetzt im Exil sitzt: Gott, die Quelle des Lebens, bestraft keine Unschuldigen; sondern, selbst wenn alles hoffnungslos erscheint, ermutigt der Prophet dazu, daran zu glauben, dass er ihnen ein gutes Leben schenkt. Ja sogar innerhalb eines Lebens gibt Gott Neuanfänge: Wenn jemand sein Verhalten ändert (religiös gesagt: sich bekehrt), soll auch er gut leben – egal, was vorher war. Also keine stumpfen Zähne von den sauren Trauben der Generationen davor. Nicht einmal für frühere eigene Fehlentscheidungen. Bei Gott kann es immer neu beginnen.

Diese Zusage sollte ein Trost für die Exilierten in Babylon sein. Und sie ist es durchaus bis heute.

Jedoch dürfen es sich Menschen, die auf diesen Gott hoffen, nicht zu leicht machen: Denn Hesékiel spricht vom Verhältnis von Menschen zu Gott, in dem es immer wieder Neuanfänge gibt und niemand auf die Fehler der Generationen vor ihm oder die eigenen Fehler festgenagelt wird. Aber in der Wirklichkeit der Welt gibt es Zerstörungen, die über Generationen Schaden anrichten oder sogar irreversibel sind. Die Fridays-for-Future-Bewegung sagt zurecht: Wir bekommen stumpfe Zähne, weil die Generationen vor uns rücksichtslos mit unserem Planeten umgegangen sind. Und in Kriegen werden – auch ganz aktuell – exzessiv die sauren Trauben des Hasses gegessen, der noch in Generationen zu spüren sein wird.

Die entlastende Hoffnung auf einen Gott der Neuanfänge muss also immer mit einer Verantwortung für das eigene Leben und künftige Generationen zusammen gedacht werden.