Lebenskunst 15.8.2022, Elisabeth Birnbaum

Bibelessay zu Offenbarung 11 & 12

Eine Frau, umgeben von Sonne, Mond und Sternen – Den Text aus dem Buch der Offenbarung des Johannes lese ich heuer anders als sonst. Seit jeher ist er für mich ein machtvoller, großartiger Text. Ich bewundere die Sprach- und Bildgewalt, die atemlose Dynamik und den Spannungsaufbau dieser Verse, und die Hoffnung, die er mit seinen dramatischen Schilderungen erzeugen will.

Das ganze Buch entstand ja am Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus als großangelegter Hoffnungstext für eine noch relativ junge, aber verunsicherte, glaubensmüde, bedrängte Christenheit. Es spricht von Rettung gegenüber einer als übermächtig erlebten feindlichen Welt. Das Böse, so gefährlich und bedrohlich es auch ist, wird nicht das letzte Wort haben, verspricht das Buch.

Und das wird in diesem Abschnitt mit zwei Zeichen gezeigt: einerseits der Drache, der nicht den Sieg davontragen und schlussendlich stürzen wird, andererseits die schwangere Frau im Sternenkranz, die gerettet wird und deren Kind zu Gott entrückt wird, von wo es herrschen wird. Das ist spannend und beruhigend zugleich.

Elisabeth Birnbaum

ist Leiterin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks

Das Böse hat auch hier nicht das letzte Wort

In der Tradition wurde diese sternenbekränzte Frau mit Maria, der Mutter des Jesus von Nazaret, gleichgesetzt. Der Drache, „die alte Schlange“, wie es anderswo heißt, alias der Teufel, kann Maria nicht überwinden. Indem sie Christus, den Messias, geboren hat, wurde das Böse endgültig besiegt. Das fand auch in der bildenden Kunst seinen Niederschlag: Auf einigen Gemälden der Barockzeit sieht man eine sternenbekränzte Maria auf der Weltkugel stehen, die eine Schlange zertritt.

Mit ihrem Beitrag zur Erlösung der Menschheit, so die katholische Tradition, habe Maria auch das Unheil rückgängig gemacht, dass laut biblischem Befund im Buch Genesis die Schlange in die Welt kam. Deshalb sei sie auch nach ihrem Tod in den Himmel aufgenommen worden. So ist es nur folgerichtig, dass der Text in der katholischen Leseordnung am Fest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel gelesen wird.

Lebenskunst
Montag, 15.8.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Heuer jedoch springen mir andere Aspekte ins Auge: So lese ich Offenbarung 12 seit dem Krieg in der Ukraine als Text, der auch heute noch Hoffnung geben kann: Allen, die unter dem unseligen ungleichen Krieg in Europa leiden.

Allen, die wie die Frau im Sternenkranz vor tödlichen Bedrohungen fliehen müssen. Allen, die vor Schmerzen schreien. Allen, die erschrecken, wenn die Sterne ihrer gewohnten Welt von einer übermächtigen Gewalt vom Himmel gefegt werden. Allen, die sich ohnmächtig unseligen Kräften und Mächten ausgeliefert sehen. Allen, die unter Menschen leiden, von denen Spaltung, Desolidarisierung, Ausgrenzung und Gewalt ausgehen. Allen, die verunsichert sind oder in ihrer Zuversicht müde werden. Ihnen allen kann der Text zurufen: Haltet durch! Das Böse, das so dramatisch und übermächtig auftritt, hat auch hier nicht das letzte Wort.