Lebenskunst 21.8.2022, Gerhard Langer

Bibelessay zu Jesaja 66,18-21

„Ein Traum von Gerechtigkeit und ethischer Gemeinschaft“ – Der Prophet, der diese Worte spricht, wendet sich an eine gequälte und vom Leiden geprüfte Nation, an Jüdinnen und Juden, deren Heimat verloren, deren Zukunft ungewiss ist. Vertrieben aus dem eigenen Land, auf Gedeih und Verderb von den Mächtigen abhängig.

Er spricht diesen Menschen allen nicht nur Trost zu, sondern stellt eine grandiose Heimreise in Aussicht, zurück an den Heiligen Berg in Jerusalem, in eine Stadt, in der der Tempel wieder ersteht und die Menschen selbst vor Gott als Geschenk, als heilige Gabe, angesehen werden. Aber nicht nur die Vertriebenen kommen zurück, sondern auch jene finden den Weg ins Land und zu Gott, die von diesem Land und von diesem Gott, von dem in der Bibel erzählt wird, noch keine Ahnung haben.

Gerhard Langer

ist katholischer Theologe und Professor für Judaistik an der Universität Wien

Die Verkündigung Gottes ohne Gewalt

Mit dem Ausschwärmen der Boten in alle Länder ist die Verkündigung der Botschaft Gottes verbunden. Überall auf der Welt soll Gott verkündet werden. Das ist kein Missionsauftrag mit Feuer und Schwert, ganz im Gegenteil. Der große jüdische Philosoph Hermann Cohen, der zwischen 1842 und 1918 lebte, hat diese Sendung als Auftrag des jüdischen Volkes in der Welt beschrieben, als eine Sendung im Dienste der Verkündigung des einen und einzigen Gottes. Für Cohen handelte es sich dabei um eine messianische Sendung, deren Ziel es war, dass irgendwann alle Menschen geeint und geschlossen den einen Gott verehren.

Lebenskunst
Sonntag, 21.8.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Die Verkündigung Gottes sollte jedoch nicht mit Gewalt oder Nachdruck erfolgen, sondern im Gegenteil durch das Zeugnis des Lebens. Genauer nannte er es das Leiden Israels als Stellvertreter für die Menschheit. Jüdinnen und Juden, vielfach gequält und verfolgt, zeugen von der Größe und Macht Gottes, von seinem Willen, die Menschen zu einen, sie gemeinsam zu einer gerechten und ethisch hochstehenden, sozialen Gemeinschaft zu formen. Cohen hielt dieses Leiden nicht für gut oder richtig, er sagte sogar, dass es eine Anklage an die Menschheit darstellt, aber er zeigte auf, dass dieses Leiden aus seiner Sicht nicht sinnlos ist.

Cohen schrieb seine Gedanken zum messianischen Auftrag Israels und zu seinem Leiden lange vor der Schoah, dem Holocaust, und es bleibt zu fragen, ob er angesichts dessen auch dieses Leiden mit diesem messianischen Sinn versehen hätte. Ich glaube jedenfalls, dass seine Gedanken in revidierter Form auch heute noch gültig sein können. Vor allem sein Wunsch nach der Überwindung der Trennung der Menschheit, des Hasses, sein großer Aufschrei nach Gerechtigkeit und sozialer und ethischer Gemeinschaft haben nichts an Brisanz verloren. Und der Traum einer geeinten Menschheit ist ein Traum geblieben.