Lebenskunst 28.8.2022, Ingrid Fischer

Bibelessay zu Psalm 68

“Von Güte und Glück“ – Rätselhafte Verse! Psalm 68 gehört zu einer Sammlung von 150 poetischen Texten, die aus loser älterer Überlieferung vermutlich zwischen dem 6. und 2. Jahrhundert vor Christus zu einem geordneten Buch redigiert wurden. Dieses Buch der Psalmen oder Psalter ist Teil der hebräischen und der christlichen Bibel.

Die Psalmen führen in die versunken-exotische Bild- und Gedankenwelt des Alten Orients. Woraus sie aber entstanden sind – Klage, Dank, Staunen, Lob und Zweifel – ist keinem Menschen fremd. Luther schätzte den Psalter als Kompendium und „kleine Biblia“, darin – so schreibt er – „ein jeder Psalmen und Worte findet, die sich auf seine Lage reimen und so auf ihn passen, als wären sie nur um seinetwillen so geschrieben“; und selbst der atheistisch aufgewachsene Lyriker Uwe Kolbe wünscht, seine Gedichte möchten doch „singen wie die Psalmen“.

Ingrid Fischer

ist Psychologin, Humanbiologin und katholische Theologin

Die Sorge Gottes um die Kleinen und Demütigen

Freilich werden im katholischen Gottesdienst an diesem Sonntag – anders als in der zuvor gehörten, um ein paar Verse erweiterten Fassung – nur sechs von insgesamt 36 Versen aus dem 68. Psalm vorgetragen. Diese kleine Auswahl folgt der liturgischen Leseordnung, die für jeden Sonn- und Feiertag vier biblische Verkündigungstexte vorsieht – je zwei aus dem Alten (auch Ersten) und dem Neuen Testament. Drei davon sind inhaltlich aufeinander abgestimmt: Der alttestamentliche Psalm soll thematisch zu der ihm vorausgehenden Lesung passen und diese wiederum zum Evangelium. So entsteht aus bewusst zusammengefügten unterschiedlichen „Text-Flicken“ eine neue Textur – doch der Stoff, aus dem die Psalmen sind, muss dafür häufig zerrissen werden.

Diese für diesen Sonntag vorgesehenen Leseabschnitte aus dem Weisheitsbuch Jesus Sirach, dem Psalm 68 und dem Lukasevangelium haben das Motiv der Sorge Gottes um die Kleinen und Demütigen gemeinsam. Im Psalm 68 „die Armen“ genannt, sind vor allem Witwen und Waisen, Verlassene und Gefangene Gottes Sorgenkinder und Schutzbefohlene.

Lebenskunst
Sonntag, 28.8.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Unterwerfung schafft noch keinen Willen zum Frieden

Wer im Text weiterliest, stößt neben der sozialen auf eine eminent politische Dimension: Der Gott Israels zieht siegreich vom Sinai – dem Berg der Offenbarung – zum Jerusalemer Tempel, um dort den Menschen nahe zu sein. Doch das macht die Welt noch nicht heil. Vielmehr „kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“. Das fürchtet auch der Psalmist: Zwar hat Gott die aufsässigen Feinde Israels entmachtet. Aber Unterwerfung schafft noch keinen Willen zum Frieden. Gefahr droht, solange das „Untier im Schilf“ – damals das übermächtige Ägypten – und andere kriegslüsterne Völker, die „nach Silber gieren“, das gedeihliche Zusammenleben und den prosperierenden Handel unter den Nachbarn torpedieren.

Was für eine treffsichere Analyse unserer täglichen Berichterstattung! Demgegenüber muss die wahre Völkerverständigung, wie sie die alttestamentliche Prophetie auch – und nicht nur für Ägypten, Assur und Israel – verheißt, noch Hoffnung bleiben.

Bis dahin gibt Psalm 68 den Bedrängten aller Zeiten eine Stimme, so als wäre er „nur um ihretwillen“ geschrieben. Und wer den Frieden ersehnt, kann nicht umhin mit ihnen zu bitten und zu rufen: „Zerstreue – endlich! – die Völker, denen Schlachten gefallen, die Lust haben am Krieg!“