Lebenskunst 11.9.2022, Regina Polak

Bibelessay zu Exodus 32,7-11.13-14

Gott ist zornig. Kaum hat er die Hebräer aus der Knechtschaft in Ägypten befreit, fertigen sich diese ein Kalb aus Metall an und verehren es als Befreier aus der Knechtschaft.

Die berühmte Erzählung vom Goldenen Kalb findet sich im Buch Exodus, das die Befreiungsgeschichte des Volkes Israel aus der politischen und religiösen Unterdrückung in Ägypten schildert. Doch diese Freiheit muss erst gelernt werden – zu tief steckt die ägyptische Mentalität auch in den ehemaligen Sklaven. Das belegen die zahlreichen Krisen beim Weg durch die Wüste ins Gelobte Land: darunter die Krise mit dem Goldenen Kalb. In diesem Kontext findet das Streitgespräch zwischen Gott und Moses statt.

Regina Polak
ist katholische Theologin und Religionssoziologin an der Universität Wien

Ein Gott, der sich besänftigen lässt

In der christlichen Rezeptionsgeschichte wurde und wird diese Erzählung als mahnendes Beispiel für die Gefahr des Götzendienstes interpretiert. So war in früheren Jahrhunderten in christlichen Gottesdiensten sogar das Tanzen verboten. Auch antijüdische Deutungen verbanden und verbinden sich mit dieser Geschichte. So sei der Tanz um das Goldene Kalb ein Beispiel für die Treulosigkeit der Juden – oder der Gott des Alten Testaments sei ein Gott des Zornes – ein Gottesbild, das das Christentum überwunden habe.

Doch solche Deutungen verfehlen den Text. Denn dieser berichtet von einem Gott, der sich besänftigen lässt und seinen Zorn sogar bereut. Um ihn zu verstehen, muss man den Kontext des Streitgesprächs berücksichtigen: Moses ist bereits seit 40 Tagen auf dem Sinai verschwunden, um dort die göttliche Weisung zu empfangen. Das Volk fühlt sich im Stich gelassen, wird unruhig und ängstlich. Es verlangt von Aaron, dem Bruder des Moses, Gottesbilder anzufertigen, die den weiteren Weg weisen sollen – und dieser gehorcht.

Den Zorn besiegen

Die Krise beginnt also mit einem Führungsproblem. Das Volk kann nicht ohne seinen starken Führer leben, der die Verbindung zu einem unsichtbaren Gott sichert; und Aaron ist eine schwache Führungspersönlichkeit. Die jüdische Auslegungstradition macht daher darauf aufmerksam, dass die eigentliche Sünde nicht in der Anfertigung des Kalbes besteht, denn Kälber und Stiere galten symbolisch als Fußschemel des göttlichen Thrones und finden sich im Alten oder Ersten Testament auch bei Beschreibungen der Bundeslade. Gottes Zorn wird also nicht durch Götzendienst ausgelöst, sondern durch Vertrauensverlust: Das Volk zweifelt trotz aller Befreiungstaten immer noch an Gott.

Lebenskunst
Sonntag, 11.9.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Dennoch macht gerade dieser Zorn vielen Menschen Angst. Aber die Pointe des Textes besteht genau darin, dass dieser Zorn besiegt wird – denn es ist MOSES, der das Streitgespräch mit Mut, Klugheit und Chuzpe gewinnt. Er macht sich zum Anwalt seines Volkes und verteidigt es; er erinnert Gott an dessen eigene Versprechen; er fordert Gott auf, von seinen Vernichtungswünschen abzulassen. Am Ende bereut Gott das Böse, das er seinem Volk angedroht hat.

Der Exodus ist noch nicht zu Ende

Für mich ist das angesichts der antiken und auch heute noch vielfach herrschenden Vorstellungen eines allmächtigen Gottes eine immer noch unglaubliche religiöse und politische Revolution: Gott lässt sich von einem Menschen überzeugen und verzichtet auf Zorn und Gewalt. Das Streitgespräch ist also keine dogmatische Aussage über das Wesen eines Gottes, der unberührt über der Wirklichkeit schwebt, sondern beschreibt die Beziehungsdynamik zwischen einem mutigen Menschen, der es voll Vertrauen mit einer allmächtig scheinenden Wirklichkeit aufnimmt, und einem Gott, der sich dadurch wandeln lässt.

Heute, am 21. Jahrestag der Terroranschläge islamistischer Extremisten auf das World Trade Center und militärische Einrichtungen in New York und Washington – quasi-religiöse Ikonen von Macht und Geld – zeigt sich die Aktualität dieser Erzählung für mich besonders deutlich. Weder der Gott der Selbstmordattentäter noch die Befürworter des „Kriegs gegen der Terror“, der den Nahen Osten bis heute destabilisiert, kennen solche Streitgespräche oder die Transformation von Zorn in Reue oder Erbarmen. Und viele Menschen rufen unsicher und verängstigt nach mächtigen und starken Führern. Die Geschichte des Exodus – der Befreiung aus der Anbetung von Macht und Gewalt, um die Moses mit seinem Gott ringt – scheint noch nicht zu Ende zu sein.