Lebenskunst 25.9.2022, Dina Baranes

„Ein neuer Anfang ist möglich“

Gedanken zum jüdischen Neujahrsfest – Die jüdischen hohen Feiertage stehen nun kurz bevor. Rosh ha-Schana, das Neujahrsfest, Jom Kippur der Versöhnungstag, Sukkot, das Laubhüttenfest, das in das Fest Schmini Azeret, den besonderen Tag der Zusammenkunft, auch Abschlussfest genannt, übergeht: Tage, die schließlich mit Simchat Thora, dem Thorafreudenfest, enden.

„… fürchte Dich nicht, es blüht hinter uns her.“

Wie tröstlich und bezaubernd ist dieses Bild, das die Lyrikerin Hilde Domin in einem ihrer bekanntesten Gedichte nachzeichnet.

wo es heißt:
„… Aber in jeder Situation gilt:
Ein neuer Anfang ist möglich.
Es ist an uns, die vor uns liegende Zeit zu gestalten.
Wer sich anstecken lässt vom Leitstern der Sehnsucht,
wer den ersten Schritt in die Zukunft wagt,
dem ist gesagt:
Fürchte Dich nicht, es blüht hinter uns her.“

Dina Baranes

ist Kulturanthropologin und Judaistin

Sehnsuchtsgefühle und Sehnsuchtsorte sind Wegweiser dieser Tage. Sehnsucht nach einem gelungenen Neubeginn, Sehnsucht nach Vergebung, Sehnsucht nach dem Erleben erfüllter gemeinsamer Freudentage, Sehnsucht nach einer Lebensquelle, die in vielen Religionen G’tt genannt wird. Sehnsucht auch nach Jerusalem, denn, wie die Dichterin ELS (Else Lasker-Schüler) in ihrer Schrift „Hebräerland“ schreibt … wir (befinden) uns in Jerusalem, mitten in der Bibel.

Jerusalem im gebenedeiten Land, Jerusalem – G’ttes verschleierte Braut, Jerusalem – Sternwarte des Jenseits, Jerusalem – Vorhimmel des Himmels – lächelndes Jerusalem (ELS) nach den Worten von…"

Beglückende Rituale und symbolische Speisen

Begleitet werden diese Tage von beglückenden Ritualen und symbolischen Speisen: Zu Rosch ha-Schana (wird Honig gereicht) / werden Apfelscheiben in Honig getaucht, wird mit Honig gekocht und gebacken, es soll ein süßes neues Jahr werden. Zu Jom Kippur wird in Stille und mit strengem Fasten um Vergebung gebeten und gebetet, Sukkot, Shmini Azeret und Simchat Thora sind Freudenfeste, die das neue Jahr im Glücksgefühl mit Psalmen beginnen lassen.

Lebenskunst
Sonntag, 25.9.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Die Liturgien von Rosch ha-Schana und Jom Kippur berühren mich zutiefst durch das innige Gebet – tief eingeprägt hat sich – Awinu Malkeinu – unser Vater – unser König – und die durchdringenden Töne des Schofars, des Widderhorns.

Und: auch in diesen Tagen geht es am 1. Tag von Neujahr um Erinnerung, die Erinnerung an die herausragenden Frauen, Sara und Hanna. Beide blieben bis ins hohe Alter kinderlos. Ihre Stärke und ihre Beharrlichkeit wurden als starkes Zeichen ihres Glaubens ausgelegt. Durch die Geburt von Isaak, Sohn von Abraham und Sara und Samuel dem Sohn von Hanna und Elkana, wurde beider Frauen größter Wunsch erfüllt, durch, wie es heißt, G’ttes Gnade. Hannas Gebet, Hannas Lied, zu finden im Ersten Buch Samuel in der Bibel, wird zum feministischen Manifest des Glaubens. In den Schriften wird ihr inniges Gebet, das sie flüsternd mit aller Hingabe an G’tt richtete zunächst als etwas Seltsames, wie Trunkenheit, betrachtet. Aber – nein – es war ein Akt der Verbundenheit zu G’tt, wie er intensiver nicht sein könnte.

„Mein Herz ist fröhlich in GOTT,
erhoben ist mein Haupt in IHM.
Weit öffnet mein Mund sich
gegen meine Feinde;
denn ich freue mich über deine Hilfe.
Der Bogen der Starken wird zerbrochen
Wankende aber gürten sich mit Kraft.
Die Satten müssen um Brot dienen,
Hungernde aber können ausruhen.
Die Unfruchtbare bekommt sieben Kinder,
während die Kinderreiche dahinwelkt.
GOTT tötet und macht lebendig,
ER führt in das Reich des Todes
und wieder herauf.“
Amen.

„Man hört G’tt atmen“

Mich erinnert es an die vielen Male, die ich an der Kotel ha Maaravi, der Westernwall, also der Klagemauer in Jerusalem war. An genau solchen spirituellen Orten verspüre ich wie bei Hanna die tiefe Verbundenheit der Menschen im Gebet, eingebettet in Vergangenheit und Zukunft. In unglaublichem Vertrauen mit großer Andacht sieht man Jungen, Männer, Mädchen und Frauen an diesem besonderen Ort tief ins Gebet versunken.

Manche berühren die historischen Steine mit beiden Händen, manche nur mit einer Hand, in der anderen Hand das Gebetbuch haltend. Wie viele Tränen habe ich dort schon gesehen, wie viele Bitten und Dank konnte ich förmlich spüren. Es verbinden sich Energien, es bildet sich eine unglaubliche Intensität und mit vertrauensvollem Blick erkennt man, dass man nicht allein ist. Was für ein Trost. ELS würde sagen – „man hört G’tt atmen“.

Der Blick wird in die Zukunft gelenkt

Kleine Zettelchen versehen mit Bitten, Danksagungen und Gebeten, die in die Ritzen zwischen die Steine gesteckt werden, sind sichtbare Zeichen eines unermüdlichen Vertrauens. In der Hoffnung und Zuversicht G’tt, der Schöpfer des Universums, auch Adonai, also Herr, genannt, möge alle Gebete erhören. Zwei Mal im Jahr – zu Rosch ha-Schana und zu Pessach werden alle diese Zettelchen eingesammelt und wie alle religiösen Schriften im Judentum an einer bestimmten dafür vorgesehen Stelle rituell begraben.

Zu Sukkot, dem Laubhüttenfest, verbindet sich „… die Erde mit dem Himmel – Menschenwohnung und G’ttesreich… so erwarten wir Juden in der bewillkommenen geschmückten Laube, über den Blumenteppich mit Jerusalemherzpochen den Herrn Adoneu“ (ELS)

Und der Blick wird in die Zukunft gelenkt. Mit dem Musaf Gebet beginnend zu Schmini Azeret wird über die Wintermonate ein besonderes Gebet um Regen – Geschem – gebetet. Maschiw haruach umorid hageschem. Das bedeutet „Wer lässt den Wind wehen und den Regen fallen?“ Gelesen wird aus dem Buch Kohelet, wenn dieser Tag nicht an einen Schabbat fällt. Kohelet rüttelt auf und macht bewusst: Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: …eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz ….

Das Leben als ein Kunstwerk

Simchat Thora ist bestimmt als der Tag der Freude und des Tanzes. Es ist der Tag, an welchem der letzte Thoraabschnitt gelesen wird und mit dem ersten Abschnitt – Bereshit, im Buch Genesis – wieder der Zyklus der Thoralesungen begonnen wird. Begleitet von Gesängen und umgeben von einer großen Kinderschar, werden die Thorarollen in Umzügen durch die Synagoge getragen.

Und so beginnt der Jahreskreis von Neuem: Das Leben als ein Kunstwerk, äußerte der jüdische Schriftgelehrte und Religionsphilosoph Abraham Joshua Heschel in einem NBC Interview 1973 – und: „… dass es da einen Sinn gibt jenseits der Absurdität …, dass jede Tat zählt, dass jedes Wort Macht hat, dass alles, was wir tun können, unser Beitrag zur Erlösung der Welt ist …“ Und er ruft auf: „… beginnt an diesem großen Kunstwerk zu arbeiten, das eure eigene Existenz ist.“