Lebenskunst 1.11.2022, Helga Kohler-Spiegel

„Selig seid ihr…“ – Matthäus 5, 1-12a

Es sind, finde ich, herausfordernde Zeiten, Energiekrise und Klimakrise, Krieg und Corona u.v.m., ich mag nicht alles aufzählen, was belastet. Und dann diese „Seligpreisungen“ – sie muten mich heuer an wie Zeilen aus einer anderen Welt.

Das Matthäusevangelium erzählt die Jesus-Geschichte mit Bezug zur hebräischen Bibel, Jesus wird als neuer Moses vorgestellt. Parallel zu den fünf Büchern Mose fasst der Autor des Matthäusevangeliums die zentrale Verkündigung Jesu in fünf große Reden, die erste davon ist die sogenannte „Bergpredigt“, diese beginnt mit den Worten „Selig seid ihr…“.

Helga Kohler-Spiegel
ist Professorin für Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg,
Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und (Lehr-)Supervisorin. Feldkirch

Das Matthäusevangelium erzählt auch, was durch Jesus von Nazareth, der als neuer Mose gilt, ausgelöst wird: Menschen kehren um, Menschen verändern ihr Leben, Menschen folgen Jesus nach, Menschen werden heil. Die Welt wird anders. Die Seligpreisungen nehmen vorweg, wie diese Welt sein kann, wenn sie in diesem Geist Jesu funktioniert. Das sind Ermutigungen zum Glauben im christlichen Sinn: „Selig seid ihr, wenn ihr dem Weg Jesu folgt. Es ist ein schwieriger Weg, aber er wird gut enden.“

Der „Lohn im Himmel“ will nicht vertrösten, sondern es ist wichtig zu wissen, dass Matthäus in jüdischer Denktradition steht und deshalb den Namen Gottes nicht ausspricht. Wenn Matthäus also „Gott“ meint, sagt er „Himmel“. Gesagt wird also: So zu leben wie Jesus, hat einen Preis. Es verbindet aber – religiös gesprochen – mit Gott.

Lebenskunst
Dienstag, 1.11.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Wie Moses die Weisungen auf dem Berg empfangen hat, so verkündet Jesus auf dem Berg die neuen Weisungen. Die Zehn Gebote sind Schutzbestimmungen für ein Leben in Freiheit, damit die Freiheit nicht wieder verloren geht, damit niemand unter die Räder kommt, damit nicht die Schwächsten in der Gemeinschaft zu kurz kommen. Und seit jeher werden diese Weisungen gebrochen. Umso mehr scheinen mir diese neuen Weisungen Jesu „ver-rückt“: Denn ich glaube zu wissen, dass die Welt nicht so funktioniert, wie es die Seligpreisungen besingen. Ich nehme vielmehr wahr, dass den Reichen die Welt gehört, dass die Armen unter die Räder kommen, und dass das mit dem Friedenstiften gegenwärtig besonders schwierig ist.

Ja: Gegenwärtig kann mich vieles mutlos machen, vieles kann ich nicht beeinflussen und schon gar nicht verbessern. Die Menschen um und nach Jesus waren wohl ähnlich in Sorge, das Römische Reich führte Kriege, unterwarf und besetzte andere Länder, Steuern und Abgaben führten zu Armut in der Bevölkerung. Damals wie heute sind die Gründe zahlreich, voll Sorge zu sein und große Sehnsucht nach Frieden zu haben. Die Worte der Seligpreisungen setzen dem entgegen: Nein, nicht Macht und Gewalt und Terror und Tod werden das letzte Wort behalten, sondern – im Duktus des Matthäus – „Selig, wer das Evangelium tut.“

Heute am Fest Aller-Heiligen wird daran erinnert, dass in allen Generationen Menschen so zu leben versuchen, wie Jesus gelebt hat, im Sinne seiner Überzeugungen und Vorstellungen. Heute an Aller-Heiligen mag ich an solche Personen denken. Sie geben mir Hoffnung und machen mir Mut, es manchmal auch zu wagen: „das Evangelium tun“, die Frohe Botschaft der Liebe zum Nächsten zu leben.