Lebenskunst 1.11.2022

Radioessay zu Allerheiligen und Allerseelen

Gedanken eines „hinterbliebenen Vaters“ von Golli Marboe, Medienschaffender und Autor

Vor wenigen Wochen hat uns ein Video meiner vierjährigen Enkelin Alma erreicht. Sie berichtet darin voller Stolz und Vorfreude, dass sie bald eine „große Schwester“ sein wird. Ab nächstem März gibt es in unserer Familie also einen weiteren Geburtstag und einen nächsten Namenstag zu feiern.
Leider findet sich in unserem Familienkalender aber auch ein Gedenktag, der unser aller Leben auf immer verändert hat: der Todestag von Tobias, der sich mit 29 Jahren das Leben genommen hat. Auch wenn dieser Tod unseres Sohnes bald vier Jahre her ist, erzähle ich nach wie vor sehr gerne von ihm.

„Nun ist das aber schon eine Weile her."

Inzwischen spüre ich allerdings immer öfter meine Vis à vis zu sich selbst sagen: „Nun ist das aber schon eine Weile her, der Golli könnte langsam aufhören, immer wieder davon zu reden.“ Aber warum denkt man in weiten Teilen unserer Gesellschaft, dass man Trauer hinter sich lassen könnte oder gar müsste? Trauer ist doch keine Krankheit! Trauer ist Ausdruck der Liebe. Meine persönliche Trauer ist ein konkreter lebendiger Teil meiner Beziehung zu Tobias!

Golli Marboe

ist Medienschaffender und Autor

Warum soll ich mich mit einem verstorbenen Kind denn weniger auseinandersetzen, als mit jenen, die leben? Wie könnte man überhaupt ein Kind mehr lieben als ein anderes? Und sollte man ein verstorbenes Kind denn aus der familiären oder öffentlichen Wahrnehmung auf den Friedhof „verbannen“?
Selbstverständlich werde ich mein Leben lang traurig bleiben, so wie ich mein Leben lang meine Kinder lieben werde. Dabei werde ich die Erinnerung an Tobias keinesfalls auf den Tag des Todes und erst recht nicht auf die Todesursache reduzieren. Ich werde den Menschen, mit dem ich 29 Jahre gemeinsam auf der Welt sein durfte, in möglichst umfänglicher Erinnerung behalten.

Zum Glück ist es so, dass unser Bub zahlreiche Bilder, Lieder, Sketches hinterlassen hat. Vieles, was zum Nachdenken anregt, vieles, was ich wohl erst im Nachhinein einzuordnen vermochte. Tobias kreierte zum Beispiel ein Piktogramm mit dem Text: „Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt, weil die Hoffnung gar nicht sterben kann!“.

Ich unterstelle, dass praktisch alle Menschen irgendwo ganz tief im Inneren darauf hoffen, dass man in einer späteren Existenz nach dem Tod all jene wiedersehen könnte, die schon gegangen sind. Dementsprechend versuche ich, Erinnerungen an Tobias so abzulegen wie andere Eltern: Der „erste Schultag“, das „Fahrradfahren ohne Stützräder“, Erlebnisse von gemeinsamen Urlauben. Auch Mütter und Väter, deren Kinder noch leben, können diese so prägenden und besonderen Ereignisse nicht noch einmal wiederholen. Sie freuen sich trotzdem über derartige unwiederholbare Momente. Warum sollte ich also das gemeinsame Leben mit Tobias nicht auch in so positiver und schöner Erinnerung bewahren?

Aber wie berichtet man nun meiner großartigen Enkelin – die eben bald große Schwester sein wird – von diesem Onkel, der nur mehr am Friedhof zu besuchen ist? Wie erzählt man von Tobias, wenn man damit auch die Traurigkeit der hinterbliebenen Schwestern, der Mutter, des Bruders mit auslöst? Warum ist es überhaupt kein Problem, über verstorbene Großeltern zu erzählen? Warum entwickeln sich schon die Essen nach einem Begräbnis oft als sehr fröhliche Ereignisse, bei denen gar nicht so selten irgendwelche amüsanten Familiengeheimnisse zu Tage treten?

Aber über das „zu jung“ gestorbene Kind kann man nicht sprechen. Was heißt denn schon Alter? Was beschreibt ein erfülltes Leben? Wieso hat man in der „richtigen“ Reihenfolge zu gehen?
Es ist belastet und schwierig, meiner Enkelin von Tobias zu erzählen. Dabei wollen wir doch, dass er nicht nur bei uns präsent ist, sondern auch bei seiner Nichte, die er selbst noch so liebevoll im Arm gehalten hat. Noch schwieriger wird es mit dem Kind, das da nun auf die Welt kommen wird. Da gibt es keine gemeinsamen Fotos mehr, nun kommt erstmals ein Mensch in unsere Runde, der den Onkel gar nicht mehr persönlich kannte. Geht damit etwas zu Ende?

LEBENSKUNST
– Begegnungen am Feiertag,
1. November 2022 (Allerheiligen), 7.05-8.00, Ö1

Am Meidlinger Friedhof, wo Tobias nun wohnt, da gibt es immer mehr Grabsteine, die brüchig werden. Gräber, die niemand mehr bezahlen möchte. Wenn nun ein Sinn des Lebens nach dem Tod liegt, sollten uns die Verstorbenen nicht Orientierung sein?
Schilderungen vom Paradies, vom Nirvana, oder anderen Beschreibungen der Ewigkeit, diese formulieren keinen Zustand, in dem die Zeit, wie wir sie kennen, einfach ohne Ende weiter geht. In einer Existenz nach dem Tod sind wir dann einfach, wer wir sind. Eine solche Idee der Gleichzeitigkeit würde im Umkehrschluss bedeuten, dass ja diese Welt, in der wir gerade stecken, auch schon ein Teil dieser Ewigkeit wäre – all die Verstorbenen schon Teil einer solchen Ewigkeit und könnten uns bei dem, was wir in unseren Leben auf Erden tun, in irgendeiner Weise über die Schultern schauen.

Ich persönlich habe mit Esoterik und Geisterwelten gar nichts gemein. Aber die theologisch-philosophische Annäherung an dieses Bild vom Paradies, das tröstet mich. Denn, wenn das so wäre, dann hätte uns auch Tobias jetzt im Blick – nur ich kann das noch nicht erkennen.