Lebenskunst 13.11.2022, Regina Polak

Bibelessay zu Lukas 21,5-19

Wenn kein Stein auf dem anderen bleibt, darf Hoffnung sprießen

Zerstörung des Tempels

Als dieser Text um 90 nach Christus verfasst wird, ist die Erinnerung an den von der römischen Besatzungsmacht zerstörten Tempel in Jerusalem noch sehr präsent. Für die judenchristlichen Gemeinden – die sich zunehmend auch außerhalb Israels verbreiteten – war diese Zerstörung eine tiefe Erschütterung gewesen; der Krieg gegen die Römer war verloren, unzählige Soldaten verschleppt oder getötet, und mit dem Tempel hatten sie ihr geistig-religiöses Zentrum verloren. Aber der Krieg hatte die frühchristlichen Gemeinden und deren Hoffnungen nicht zerstören können.

Regina Polak

ist Theologin und Religionssoziologin

Diese Hoffnungen bezogen sich in der Jesusbewegung auf den Anbruch der Endzeit. Aber anders als in antiken und zeitgenössischen Vorstellungen der Apokalypse, in deren Zentrum die Angst vor der Zerstörung der Welt und göttlicher Strafe stand und steht, war die jüdische Hoffnung auf die Apokalypse von der leidenschaftlichen Überzeugung getragen, dass Gott im Begriff steht, seine alten Verheißungen zu erfüllen: das heißt, die Geschichte zu erlösen, das Böse zu besiegen, die Toten aufzuerwecken und eine universale Herrschaft des Friedens und der Gerechtigkeit herbeizuführen.

Christ:innen heute haben vielfach vergessen, wie zentral diese Hoffnung auch für Jesus und seine Bewegung war. Allerdings war diese bis zum römischen Krieg bereits mehrfach enttäuscht worden. Zum ersten Mal, als die Jünger:innen Jesu dessen entsetzliche Kreuzigung miterleben mussten. Das zweite Mal, als die Erscheinungen des Auferstandenen versiegten. Das Reich Gottes in seiner Fülle brach nicht an, der Messias kehrte nicht wieder. Zum dritten Mal kam die Endzeiterwartung auf, als der römische Kaiser Caligula sein Bildnis im Jerusalemer Tempel errichten wollte – aus jüdischer Sicht der Inbegriff von Götzendienst und Fremdherrschaft, die nur durch die Ankunft der Gottesherrschaft hätten beendet werden können.

Lebenskunst
Sonntag, 13.11.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Aber wie auch nach dem Krieg gegen die Römer schien die Apokalypse erneut verschoben. Das Lukasevangelium lässt diese aufwühlende, verstörende Vorgeschichte nur noch in Passagen wie der heutigen Schriftstelle erkennen. Es konzentriert sich auf die Entstehung der jungen Kirche.

Mich fasziniert, wie die Jesus-Bewegung mit diesen Enttäuschungen umgegangen ist. Sie resigniert und verzweifelt nicht, sondern wendet sich immer wieder ihrer jüdischen Tradition zu und deutet sie neu. Sie gibt die Hoffnung nicht auf, sondern ringt um ein tieferes Verständnis der Verheißungen Gottes und ihres auferstandenen Meisters. Die aufgeschobenen Apokalypsen werden zum Lernraum des Glaubens.

Auch in dieser Schriftstelle lässt Lukas Jesus seine Zuhörer:innen an diese apokalyptische Tradition erinnern. Diese Erinnerung wird im Kontext der Erfahrung des Überlebens der frühchristlichen Gemeinden zu Trost- und Ermutigung: Wir haben die Katastrophe schon mehrfach überlebt, wir werden sie wieder bestehen. Darin besteht für mich die frohe Botschaft.

Ich muss als Christin angesichts drohender Katastrophen nicht verzweifeln, sondern kann mich und die Welt verändern. Solange die Apokalypse ausbleibt, kann ich besser verstehen lernen, was ich selbst zur Verwirklichung der Hoffnung auf das Reich Gottes beitragen kann. Dazu werden mir laut Lukas sogar Worte der Weisheit eingegeben und wird mir selbst in größter Gefahr kein Haar gekrümmt werden. Solch ein Trost wider alle Fakten gibt mir Kraft zum Protest, Widerstand und Mut.