Lebenskunst 20.11.2022, Mirja Kutzer

Bibelessay zu 2 Samuel 2, 5,1-3

Noch immer ist mein Verhältnis zu König David stark von den Bildern aus der Bibel geprägt, die ich als Kind hatte. Sie waren sehr bunt und sehr dramatisch

Vor meinem inneren Auge sehe ich den jungen David, der die Steinschleuder in der Hand schwingt, mit der er gleich den Riesen Goliath töten und sein Volk vor den Philistern retten wird. Auf dem nächsten Bild beruhigt er Saul mit der Harfe. Und dann ist da natürlich das Bild der schönen Batseba, die David in seinen Palast holt, während er ihren Mann Urija an den gefährlichsten Teil der Front und damit in den Tod schickt.

Schamlos, so ist mir heute klar, hat der König in seinem sexuellen Begehren seine Position der Macht ausgenutzt. Er geht über Leichen und hat Batseba, die nirgends im Text Zuneigung zu David oder Zustimmung erkennen lässt, schlicht vergewaltigt. David hätte Me too nicht überstanden.

Mirja Kutzer

ist katholische Theologin, die an der Universität Kassel lehrt

Der ideale König

Und doch bleibt er in der Erinnerung der große ideale König. Er ist derjenige, der gemäß dem Text aus dem 2. Samuelbuch Israel und Juda, Nordreich und Südreich wieder miteinander vereint – nicht weil er Krieg führt und einer schrägen Idee von historischer Einheit folgt, sondern weil die Stämme Israels es von ihm erbitten. 40 lange Jahre ist David König – in der Bibel eine ideale Zahl. Es sind 40 Jahre, in denen das Leben – wenigstens in der Rückschau – im Großen und Ganzen in Ordnung war.

So richten sich die Sehnsüchte späterer Generationen zurück auf die Zeit Davids. Eine solche Zeit, ein solcher König möge wiederkommen. Diese Hoffnung formiert sich dort, wo das Südreich im 6. Jahrhundert vor Christus erobert wird, die Eigenstaatlichkeit verloren geht und große Teile der Bevölkerung nach Babylon deportiert werden. Oder zur Zeit Jesu, als Israel unter der Herrschaft des Römischen Reiches stöhnt.

In diesen Situationen hoffen Menschen auf einen neuen David, auf den Messias als einen von Gott gesandten Retter, der wie einst David gesalbt ist – denn das heißt Messias der Wortbedeutung nach: der Gesalbte. Und während Jüdinnen und Juden den Messias noch erwarten, sehen Christinnen und Christen ihn in Jesus von Nazareth bereits gekommen. Freilich warten auch sie – darauf, dass er wiederkommt, dass er endgültig die Königsherrschaft Gottes errichten wird und dann – endlich – alles gut wird. Eingedenk dieser Hoffnung feiert die katholische Kirche heute den Christkönigssonntag, der das Kirchenjahr abschließt.

Lebenskunst
Sonntag, 9.10.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Der Messias

In der Erwartung des neuen David, des Messias, ist die Hoffnung über die Daviderzählung weit hinausgewachsen. Sie ist mehr und anders als der Wunsch nach politischer Selbstbestimmung und Eigenständigkeit geworden. An sie haben sich umfassende Sehnsüchte angelagert – dass die Völker in Frieden miteinander leben, dass Gerechtigkeit herrscht, dass Menschen ihre innere Zerrissenheit loswerden und ein gutes Leben führen, in dem der eine für den anderen da ist. Dass selbst Tiere, Fressfeinde, friedlich nebeneinander leben und alle Gebrochenheit in der Schöpfung schwindet. Mühelos lassen sich heute diese Hoffnungen weiterspinnen: Auf eine Welt, in der kein Herrscher ein anderes Land mit Krieg überzieht, sondern in der Einheit herrscht, weil Völker zusammenfinden.

Auf eine Erde, in der das Leben von Mensch wie Tier geachtet wird und in der wir das verwirklichen, was heute mit „Nachhaltigkeit“ betitelt ist. Diese großen Hoffnungen – sie speisen sich weniger aus der Geschichte Davids, denn aus den Brüchen unseres Lebens.
Die Erinnerungen an den gar nicht so idealen König David, von dem die Samuelbücher erzählen, drohen diese großen Hoffnungen schier zu erschlagen. Für mich freilich hat dieses Ineinander von Licht und Schatten, von Ideal und Unvollkommenem in der Figur Davids auch etwas Tröstliches. Es lässt mir die Hoffnung, dass sich Messianisches auch in der Gebrochenheit unseres Lebens, des Lebens aller Menschen verwirklichen kann.