Lebenskunst 27.11.2022, Bischof Benno Elbs

Bibelessay zu Jesaja 2,1-5

Die Realität sieht anders aus. Das war meine erste spontane Reaktion, als ich den Jesaja-Text wieder gelesen habe

Das große Friedensbild des Propheten wird in unseren kriegserschütterten Tagen durchkreuzt von der genau entgegengesetzten Logik. Nicht Schwerter werden zu Pflugscharen, sondern umgekehrt: Das, was dem Leben dienen soll, wird rücksichtslos zur Kriegsführung eingesetzt. Getreide wird zum Druckmittel, natürliche Ressourcen werden zur Kriegswaffe, Menschen – welch widerlicher Ausdruck – als Kanonenfutter in den Tod geschickt. Krieg pervertiert das Leben.

Benno Elbs
ist römisch-katholischer Bischof von Feldkirch

Die Realität sieht auch deshalb anders aus, weil Jesaja im Grunde gar nicht von der Realität spricht. Gleich zu Beginn macht er klar: All das, was er hier beschreibt, passiert nicht jetzt, sondern am „Ende der Tage“. Jesaja entwirft eine Zukunftsvision. Und er verbindet damit die starke Hoffnung, dass, wenn alles ein Ende hat, noch nicht alles aus ist.

Ins Zentrum seiner Vision einer guten Zukunft setzt Jesaja das Bild der Wallfahrt, der sich ausdrücklich alle Völker anschließen. Die Völker und Nationen ziehen also nicht mehr, wie in früheren Zeiten, nach Jerusalem, um Krieg zu führen und die Stadt zu zerstören. Vielmehr pilgern sie Seite an Seite zum Zion, um dem Gott Israels zu dienen und ein Leben nach seiner Weisung, der Tora, zu führen. Mit dieser Wallfahrt ist auch für uns die Einladung, ja die Aufforderung ausgesprochen, sich einzureihen in die pilgernde Menge, um vom Gott Israels den Frieden neu zu lernen.

Ziel dieser Völkerwallfahrt ist der Berg Zion. Er ist, wie Jesaja eigens betont, der höchste aller Berge, der alle Hügel überragt. Hier meine ich auch ein Motiv gefunden zu haben, das dem Text eine adventliche Perspektive geben kann. Denn dem Aufstieg der Völker zum Berg Zion entspricht in adventlicher Sicht der Herabstieg Gottes im Kind von Bethlehem. Zwei Dynamiken, zwei Bewegungen kommen hier zusammen: Der Mensch, der sich großmachen und sich mit seinen Sorgen und Sehnsüchten Gott entgegenstrecken möchte, trifft auf einen Gott, der dem Menschen entgegenkommt, sich klein macht, Mensch und Kind wird.

Adventlich leben heißt, darauf vertrauen, dass mit dem Ende nicht alles aus ist, weil Gott uns entgegenkommt und der Gestalt eines Kindes einen neuen Anfang setzt. Dieser Anfang beginnt heute. Die biblischen Texte wie der des Jesaja setzen Widerstandkräfte frei, geben Hoffnung und Zuversicht. Im Vertrauen auf die positive Kraft der Veränderung muss es möglich sein, heute schon Schwerter zu Pflugscharen und Lanzen zu Winzermessern umzuschmieden.

Jerusalem wird dann für alle Völker zu jenem Ort, den es im Namen trägt: Stadt des Friedens. Eine adventliche Verheißung für die ganze Welt.