Lebenskunst 4.12.2022,Susanne Heine

Bibelessay zu Hohelied 2, 8-13

Das Liebeslied einer Frau, die den Lockruf ihres Geliebten hört. Und das steht in der Bibel? Das Hohelied, im hebräischen Original „Lied der Lieder“ genannt, ist eine Sammlung altorientalischer Liebesgedichte und etwa 200 vor unserer Zeitrechnung entstanden.

Die Lieder schildern mit vielen erotischen Bildern und Szenen die sexuell erwachende Liebe eines jungen, einander ebenbürtigen Paares, das sich gegenseitig voller Sehnsucht besingt. Die beiden treffen sich in einem romantischen Garten – wie ein Garten Eden.

Susanne Heine
ist Theologin und Religionspsychologin

Von der Bibel bin ich anderes gewöhnt: Schöne Frauen verführen Männer zum Ehebruch , Sex ohne Ehe ist verboten und die Erzeugung von Nachkommenschaft Pflicht. Diese Art Weisheit ist allerdings auch außerhalb der Bibel im Orient verbreitet, eine patriarchale Welt, in die das Hohelied nicht passt. Umso mehr die Frage: Warum landet es dann in der Bibel?

Texte werden gelesen, aber was sie bedeuten, hängt auch davon ab, wer sie liest. Ein Liebespaar liest das Hohelied vermutlich als Schilderung seiner Empfindungen. Ein Brautpaar will die Lieder vielleicht bei seinem Hochzeitsfest rezitiert haben; aus diesem Anlass könnte das Hohelied entstanden sein. Wer keine poetische Ader hat, liest das Hohelied womöglich als nur schwach verschlüsselte Pornografie.

Im Jahr 70 zerstören die römischen Truppen den Tempel in Jerusalem. Das Kultzentrum ist verloren, und die jüdischen Gelehrten, die Rabbiner, gehen daran zu entscheiden, welche ihrer vielen Schriften als biblische Autorität gelten sollen. Über das Hohelied denken sie lange nach, aber dann: Ja! Denn: Die Rabbiner lesen das Hohelied wieder ganz anders, nämlich als Ausdruck der Liebe Gottes zum Volk Israel. Daher steht das Hohelied seit etwa Ende des 1. Jahrhunderts in der Bibel.
Die christlichen Kirchenlehrer lesen das Hohelied noch einmal anders: Aus Liebe zu den Menschen schickt Gott Jesus Christus, den Bräutigam, der seine Braut, die Kirche, liebt. Oder in der Mystik: Die Frau steht für die gläubige Seele, die sich nach der Vereinigung mit Gott und Christus sehnt. Bis heute verstehen sich Nonnen als Bräute Christi.

Solche geistlichen Lesarten des Hoheliedes zeigen für mich eine unübliche Perspektive: Hier wird kein Mensch ermahnt, Gott zu lieben, sondern es ist Gott, der sich nach den Menschen sehnt. Er sucht und lockt sie: Komm zu mir in den himmlischen Garten! So wird ein sehr irdisches Liebeserleben würdig, von Gott zu sprechen und damit zugleich gewürdigt als eine von Gott gegebene Erfüllung menschlichen Daseins.

Liturgisch gehört das Hohelied im Judentum ab dem Mittelalter zu den Lesungen beim Pessach-Fest. Bei christlichen Trauungen, römisch-katholisch wie evangelisch, kann aus dem Hohelied gelesen werden. Seit 2018 gelten einige Passagen aus dem Lied der Lieder im evangelischen Sonntags-Gottesdienst als Textvorlage für die Predigt.
Die Schilderung des Frühlings passt zwar nicht zum Advent, aber der Lockruf Gottes: Komm! kennt keine Jahreszeit.