Lebenskunst 11.12.2022, Mirja Kutzer

Bibelessay zu Jesaja 35,1-6b

Der Start in den Morgen fühlt sich an diesen Tagen nicht so besonders rund an. Es ist dunkle Nacht, wenn ich mit meinen Töchtern aufstehe und erst einmal die Kerzen des Adventskranzes anzünde, um es etwas gemütlicher zu machen und das Dunkel zu verscheuchen.

Während meine Töchter dann schlaftrunken über ihrem Kakao hängen, wage ich den ersten Blick in die News des Tages und lese, was man da eben gerade so liest. Es will nicht so recht zusammenpassen, die roten Kerzen auf dem Tisch und der Duft nach Tannenzweigen und Wachs, und die Berichte über Flugangriffe und Zerstörung, über Klimakrise und Hunger in der Welt. Vergangenes Jahr war es auch schon so im Advent, dieses Gefühl von Zerrissenheit. Damals wegen eines Todesfalls in der Familie. Und noch ein Jahr zuvor der erste Corona-Winter mit seinem Schrecken.

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin an der Universität Kassel

Der Zuversicht Raum geben können

Vielleicht ist es ohnehin immer so, wenn Advent ist und die Sehnsucht nach heiler Welt so stark, dass die Krisen der eigenen wie der großen Welt umso penetranter vor dem äußeren und inneren Auge vorbeispazieren. Irgendwas ist halt immer, denke ich lakonisch, und lese mit diesem Gefühl in der Magengegend den Abschnitt aus dem Buch Jesaja, den die katholische Leseordnung für heute vorsieht.

Es ist ein Jubellied, passend zum dritten Adventssonntag, dem Gaudete-Sonntag, der mit „Freut euch“ überschrieben ist. „Jubeln werden die Wüste wie das trockene Land, jauchzen wird die Steppe und blühen wie die Lilie“, und selbst „die Zunge des Stummen frohlockt“, so heißt es im Text. Freude allüberall, doch auch hier ist die Krise, sind die Brüche des Lebens nicht weit. Es ist das trockene Land, das sich freut – Land, in dem kaum etwas wächst, in dem der Kampf um das Leben hart und der Tod nicht weit ist. Es sind Landstriche, die angesichts der Erderwärmung häufiger werden, erinnert mich sofort mein krisengeschulter Blick.

Lebenskunst
Sonntag, 11.12.2022, 7.05 Uhr, Ö1

Es freuen sich aber auch diejenigen, die nicht gehen können, denn sie springen nun wie die Hirsche. Und es freuen sich die Gehörlosen ebenso wie diejenigen, die nicht sprechen können. Mit ihnen jubeln Menschen, die zur Zeit Jesajas, im 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, am äußersten Rand der Gesellschaft lebten und auf Almosen angewiesen waren. Mich erinnern sie an Menschen, die es heute oft so unnötig schwer haben, weil ihre Bedürfnisse übersehen werden. Der Text ist aus der Krise geboren – aus dem, was als schwer, als ungerecht, als un-heil erfahren wird und aus der Sehnsucht, dass alles dies „gut“ werden möge. Ebenso umgekehrt: Die Bilder des Jubels, die der Text zeichnet, lenken den Blick auf Situationen des Lebens, die man nur zu gerne ausblendet, wenn es einem gut geht.

Mich stoßen sie mit der Nase darauf, was Advent bedeutet – nämlich zu warten, weil eben nicht alles gut ist. Unruhig zu bleiben, weil die Krisen unseres Lebens, die Krisen dieser Welt Aufmerksamkeit, Solidarität und mitunter auch einfach Aushalten erfordern. Der Advent gibt dieser unausrottbaren Sehnsucht des Menschen, dass das Leben ganz und heil sein möge, einen festen Ort im Jahr. Heute, so nehme ich mir vor, werde ich mit meinen Töchtern die dritte Adventskerze anzünden und dabei die Jubelrufe des Textes im Ohr haben. Und ich werde mich der Zuversicht hingeben, dass alles gut wird.