Lebenskunst 5.2.2023, Johannes Modeß

Bibelessay zu Matthäus 9,9-13

Am Anfang des Jahres sitze ich um vier Uhr morgens mit Alma am Frühstückstisch. Unsere Fünfjährige ist eine Sehr-Früh-Aufsteherin und läuft zu dieser Zeit zur Höchstform auf. Ich eher nicht.

Ich berichte ihr vom Neujahrsempfang in unserer Pfarrgemeinde am Vorabend. Der endete mit einem Schock: Eine Handtasche ist gestohlen worden aus unserem Gemeindesaal, während wir alle miteinander angestoßen und geredet haben. „Was können wir tun, um so etwas in Zukunft in unserer Kirche zu verhindern?“, frage ich Alma.

Johannes Modeß
ist evangelischer Theologe und Pfarrer an der Wiener Stadtkirche

Jesus und die Räuberscheuche

Ihre erste Idee ist: „Ihr müsst in der Kirche eine Räuberscheuche aufstellen. Wie eine Vogelscheuche, nur für Räuber. Oder ihr kontrolliert alle am Eingang und lasst nur die hinein, die ihr kennt und die sicher nichts klauen.“ Das wären vielleicht wirklich effektive Lösungen. Vielleicht könnten wir mit so einer Räuberscheuche die Diebstähle in unseren Räumen reduzieren. Oder verhindern, dass Geld aus der Spendenbox unserer „offenen Citykirche“ wegkommt.

Aber der Auftrag einer christlichen Gemeinde ist ja nicht in erster Linie die Selbsterhaltung. Christliche Gemeinden leben in der Nachfolge Jesu. Und dieser Jesus von Nazareth hat seinen Mitmenschen eine trotzige Offenheit vorgelebt. Eine Offenheit, die kaum jemand nachvollziehen konnte. Skandalös war es, einen Zöllner in die Nachfolge zu rufen; mit Zöllnern und Sündern – den gesellschaftlich Verachteten – zu essen.

In der politischen Theorie haben der argentinischeTheoretiker Ernesto Laclau und die belgische Politologin Chantal Mouffe die Rede von der „konstitutiven Exklusion“ geprägt. Sie meinen: Es ist gar nicht möglich, eine Gemeinschaft zu bilden, ohne dabei Menschen auszuschließen. Auch Christ:innen glauben nicht in fröhlicher Naivität, dass das geht.

Lebenskunst
Sonntag, 5.2.2023, 7.05 Uhr, Ö1

Keine Scheu vor „Sündern“

Wer aber in der Nachfolge Jesu Christi lebt, kann sich auch mit den notwendigen Ausschlussmechanismen der Welt nicht zufriedengeben. Wo Menschen ausgeschlossen werden, leiden Christ:innen darunter. Jesus Christus hat den Inhalt seiner Verkündigung „Reich Gottes“ genannt. Es war und ist die Utopie einer Gemeinschaft, die niemanden ausschließt.

Ein Bild einer solchen Utopie ist der Segen, den Pfarrer:innen am Ende jedes Gottesdienstes sprechen. Sie legen Gottes gutes Wort auf alle Menschen, die da vor ihnen sitzen. Niemandes Gesicht wurde vorher kontrolliert, niemand wurde verscheucht, niemand musste sich dieses Segens erst als würdig erweisen. Gesegnet wird im Vertrauen, dass Gottes Wort Menschen auch aus ihren Abgründen herausrufen kann. So wie Jesus den Zöllner Matthäus rief.

Ich wende also gegen die Räuberscheuche und die Gesichtskontrolle ein, dass unsere Kirche immer für alle offen sein soll. Alma schmiedet sofort einen neuen Plan: „Dann versteckt doch Geschenke unter allen Kirchenbänken. Wenn der Dieb dann ein Geschenk findet, hat er alles, was er braucht, und muss nichts mehr stehlen.“ Ich glaube, sie hat die Botschaft Jesu verstanden.