Lebenskunst 19.2.2023, Christine Rod

Bibelessay zu Matthäus 5,38–48

Muss man sich eigentlich alles gefallen lassen? Muss sich ein Land von einem anderen einnehmen lassen? Muss man sich an Leib oder Seele Gewalt antun und sich damit in seinem Menschsein für den Rest des Lebens schädigen lassen?

Auch wenn es sich nicht um etwas so ganz Existenzielles handelt, frage ich mich: Muss ich mich im Alltag über den Tisch ziehen lassen, wenn ich meine, schlecht behandelt zu werden oder zu kurz zu kommen?

Sr. Christine Rod
ist Generalsekretärin der Österreichischen Ordenskonferenz

Fortschrittliche Aussage

Das Evangelium, das an diesem Sonntag in katholischen Kirchen verkündigt wird, greift in ziemlich geballter Ladung einige „heiße Eisen“ auf. Aber es ist dabei nicht eindeutig und das Gesagte ist nicht für alles und jedes anwendbar. Und Patentrezepte gibt es damit ohnehin nicht.

„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist ein berühmtes Wort geworden. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ war eine ziemlich fortschrittliche Aussage zur Zeit des Jesus von Nazareth und davor, es findet sich ja bereits in den Fünf Büchern Mose (etwa in Lev 24,20). In einer Zeit also, in der im Allgemeinen das Motto gegolten hat: „Du hast mir ein Auge verletzt? Dafür mach ich dir gleich alle zwei kaputt. Und einen Zahn eingeschlagen? Warte nur, ich schlage dir mindestens drei ein.“ Jesus aber toppt noch das für damalige Zeiten fortschrittliche Gebot, nur Gleiches mit Gleichem zu vergelten und ruft auf, nicht zurückzuschlagen.

Eingefahrene Verhaltensmuster

Und weiter: Der Arme soll auch noch den Mantel, die schützende Decke für die Nacht, hergeben, und der zum Gehen Gezwungene soll gleich auch noch freiwillig mit dem, der ihm etwas abverlangt, weitergehen. In diesen Worten spitzt sich einiges zu, und mir kommt vor, Jesus übertreibt (so wie ich auch, wenn ich mich unbedingt verständlich machen will) und legt gewissermaßen mit seinen Beispielen noch eins drauf.

Jesus lädt ein, mich nicht der Wut und der Vergeltungslust hinzugeben und damit vielleicht etwas zu zerstören, was ich eigentlich gar nicht so wollte. Er verleugnet Unrecht und Kränkung nicht, aber er spielt eingefahrene Verhaltensmuster nicht mit und lädt ein zum Innehalten, zum Maßhalten, zum Nachdenken.

Lebenskunst
Sonntag, 19.2.2023, 7.05 Uhr, Ö1

Von einem, der hervorruft und herausruft

Jesus bürstet gegen den Strich, und zwar kräftig. Was sind denn das für verrückte Dinge, die er da empfiehlt – sich noch mehr schlagen lassen, sich noch mehr ausnützen lassen? Ist Jesus ein Provokateur? Ja, er ist einer, und zwar im besten und ursprünglichsten Sinn des Wortes: Er ist einer, der hervorruft, der herausruft. Er ruft und rüttelt, er beunruhigt und macht wach. Er bürstet gegen den Strich und weist auf neue, vielleicht paradoxe, jedenfalls noch nicht erdachte und erprobte Möglichkeiten hin. Er erinnert daran, dass es noch etwas anderes als das „Mehr vom selben“ gibt, dass man damit eingeschliffene Muster durchbrechen kann und soll, und dass mit dieser anderen Art von Grenzüberschreitung etwas Neues entstehen kann.

Der Gipfel dieser Zumutungen ist die Anweisung, auch die Feinde zu lieben. Noch einmal eine unendliche Zuspitzung, denn wie könnte man diejenigen lieben, die einem an Leib und Seele oder vielleicht sogar einer ganzen Menschengruppe oder einem ganzen Volk Schaden antun? Bemerkenswert ist hier die Begründung: Gott lässt die Sonne aufgehen, und er lässt regnen über Gute und Böse.

Eine Einladung

Nein, es wird nichts verharmlost und nichts heruntergespielt, aber diese Begründung kann helfen, so manches zu relativieren; zumindest das, was nicht lebensbedrohlich ist. Gott ist größer, und seine Sonne und sein Regen hängen nicht nur von mir und meinem Befinden ab.

Heute ist Faschingsonntag. Dieses Evangelium ist ja nicht gerade eine spaßige Angelegenheit. Aber es könnte doch eine Einladung sein – zumindest im Hinblick auf mich und meine eigene kleine Welt – nicht alles so staatstragend ernst zu nehmen, sondern ein wenig gelassener, leichter, vielleicht sogar heiterer mit dem umzugehen, was ich zunächst ungerecht und bedrängend erlebe. Vielleicht tun sich dann neue, bisher ungeahnte Lösungen auf.