Lebenskunst 12.3.2023, Gerhard Langer

Bibelessay zu Exodus 17,3-7

Kaum ein anderes Element ist so mit Bedeutung aufgeladen wie das Wasser. Ohne Wasser vermag der Mensch nur wenige Tage zu leben. Wasser ist geradezu Sinnbild für Leben und hat in allen Kulturen und Religionen einen hohen Stellenwert.

In dieser Stelle aus dem biblischen Buch Exodus befindet sich das Volk Israel auf der Wanderung, befreit aus dem Sklavenhaus Ägypten, aber noch nicht im versprochenen Land, in das es hinziehen soll. Es ist sowohl physisch als auch mental in einer Art Zwischenzustand, in einem Niemandsland. Waren die Israeliten und Israelitinnen vorher mit Manna als Gabe Gottes gespeist worden, so dürsten sie jetzt nach Wasser. Der Durst ist so übermächtig, dass sie sogar an der Befreiung zweifeln und vor allem Mose bedrohen, der um sein Leben fürchten muss.

Gerhard Langer
ist katholischer Theologe und Professor für Judaistik an der Universität Wien

Von Quellen des Lebens

Aber Mose ist nur eine Mittlerperson. In Wirklichkeit zweifelt das Volk nicht an ihm, sondern an Gott. Die eigentliche Frage wird am Schluss gestellt. Ist Gott in unserer Mitte oder nicht? Um seine Gegenwart zu beweisen, muss Gott mithilfe des Mose ein Wunder tun und Wasser aus dem Felsen fließen lassen. Der Ort, an dem dies geschieht, ist der Horeb. Dies ist nichts anderes als ein anderer Name für den Sinai, jenen Ort also, an dem Gott seinem Volk seine göttliche Weisung, die Tora, geben wird. Wirklich verstehen kann man den Text erst, wenn man ihn im übertragenen Sinn deutet, metaphorisch. Das Wasser ist dann nichts anderes als jene Quelle des Lebens, die Mose dem Volk von Gott her überbringt, die Tora, die Weisung.

Aus ihr kann das Volk in der Zerstreuung, in der Diaspora, schöpfen. Sie ist der Beweis und Garant, dass Gott da ist, auf Seiten der aus Ägypten herausgeführten Menschen steht, sie nicht im Stich lässt. In einer schönen Erzählung im Talmud, einer der bedeutendsten Sammlungen des Wissens der Rabinnen versucht ein Fuchs einen Fisch, der vor den Netzen der Fischer flieht, davon zu überzeugen, dass er an Land gehen soll, um mit ihm zu leben. Aber der Fisch, er symbolisiert das Judentum, weist das Angebot zurück. Wie könnte ein Fisch an Land leben, wo ihm das Lebenselixier, das Wasser, fehlt. Wie könnte also ein Jude ohne Tora leben, die ihn am Leben hält, auch in einer Situation der Bedrohung, auch angesichts von Judenfeindschaft und Antisemitismus.

Ein Wertesystem

Im übertragenen Sinn hat das Wasser aber nicht nur die Bedeutung eines Sinnbildes der Tora, sondern auch ihrer Verkündigung und Lehre. Daher ist auch der Vermittler der Tora, der oder die Gelehrte, ein Gefäß, aus dem Wasser strömt. Im Neuen Testament wird die metaphorische Bedeutung auf den Lehrer Jesus übertragen. Auch er vermittelt lebendiges Wasser, die Botschaft von einem rettenden Gott. Dabei soll Jesu Botschaft die Tora des Judentums gerade nicht ersetzen, sondern interpretieren und auslegen.

Auch Menschen, die mit Religion, welcher auch immer, nichts am Hut haben, kann die Stelle etwas über ihr Leben Wertvolles sagen. Denn in ihr steckt die zeitlose Botschaft, dass niemand auf seiner oder ihrer Wanderung durchs Leben ohne eine dieses Leben erst ermöglichende Kraft auskommt. Man mag es Sinn nennen, Aufgabe, ein Wertesystem. Auch die Verzweiflung und das Hadern haben hier ihren Platz. Und es erscheint nur legitim, sich an Menschen zu wenden, denen man Hilfe zutraut und die imstande sind, Hilfe zu geben. Es liegt freilich an jedem selbst, ob sie oder er diese Menschen als Werkzeuge einer höheren Macht wahrnehmen will oder nicht.