Lebenskunst 30.4.2023, Martin Jäggle

Bibelessay zu Johannes 10,1-10

„Bitte, verstehe mich nicht so schnell!“ Das sagt jeder poetische Text, ja jeder Text mit einer großen Bedeutungsfülle. Umso mehr gilt dies für Bibeltexte: „Bitte, verstehe mich nicht so schnell!“

Die Spannweite des soeben gehörten Textes aus dem Evangelium nach Johannes ist sehr weit. Der Text beginnt beim Schafstall und endet bei „Leben in Fülle haben“. Ich versuche, den Text vom Ende, also von seinem Ziel her zu verstehen, wo es heißt: „Das Leben in Fülle haben.“ Wörtlich würde es heißen: Das Leben „ringsum über sich hinaus“. Man könnte auch übersetzen: „Das Leben im Überfluss haben.“ Das steht ganz im Gegensatz zu „im Überfluss leben“. Eine Überflussgesellschaft propagiert, im Leben immer mehr haben zu können und zu sollen. Daraus wird ein von allem Möglichen „angefülltes Leben“.

Martin Jäggle
ist Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit

Von Höhen und Tiefen in einem erfüllten Leben

Dem Verfasser des Evangeliums geht es aber mit dem Ausdruck „Leben in Fülle“ um ein „erfülltes Leben“. Das ist primär mit Wellness, frei von Leid oder für sich allein leben wollen, nicht zu haben. Ein „erfülltes Leben“ schließt alle Höhen und Tiefen, ja auch Abgründe des Lebens ein, an dessen Ende es möglich wird, mit einer gewissen Zufriedenheit zu sagen: „Es war zwar oft sehr schwer und es hatte zu viele dunkle Stunden, aber so, wie es war, ist es gut.“ Wie ist aber der Weg, der zu dieser Erfahrung und Zufriedenheit führt?

Ein Wort im Text, das viermal vorkommt, bietet sich als Schlüssel für das Verständnis des Ganzen an: Die Tür, durch die der Hirte in den Schafstall geht, die Tür, durch die die Schafe ein- und ausgehen. Kaum zu verstehen sind zweimal die Worte im Munde Jesu: „Ich bin die Tür!“ Hier hilft der Blick in die weisheitliche Tradition des Volkes Israel weiter. Dort findet sich das Bild von der Tür, an der sich so viel entscheidet, der Tür, an der sich der Lebensweg eines Menschen entscheidet.

Lebenskunst
Sonntag, 30.4.2023, 7.05 Uhr, Ö1

Die Weisheit, eine orientierte Lebenspraxis

Im Buch der Sprüche sagt die Weisheit „Selig der Mensch, der auf mich hört, der Tag für Tag an meinen Toren wacht.“ Und „Wer mich findet, findet Leben.“ Die Weisheit, oft vorgestellt als gottähnliche weibliche Figur, begründete im Judentum eine ganz an der Tora, der Weisung Gottes, orientierte Lebenspraxis.

Der Autor des Evangeliums, der Jesus sagen lässt „Ich bin die Tür!“, sieht in Jesus eine Art Erbe dieser Weisheit und ihrer Lehre. Durch diese Tür zu gehen, das bedeutet: Die Weisung Gottes, die Jesus als frommer Jude gelebt hat, zu befolgen und das führt zum „Leben in Fülle“. Dem entspricht auch die allgemeine Erfahrung von „erfülltem Leben“, das an ethischen Grundsätzen ausgerichtet ist, im Einklang mit dem eigenen Gewissen.