Lebenskunst 29.5.2023, Elisabeth Birnbaum

Bibelessay zu Apostelgeschichte 10,34–35.42–48a

Ich erinnere mich an einen offiziellen Empfang für Kirchenmitglieder durch einen hohen Politiker. Bei seinem Versuch freundliche Worte für seine Gäste zu finden, betonte er, dass Religion die Lösung für die Probleme in der Welt sei. Darauf antwortete ein hoher kirchlicher Würdenträger: „Religion sei keineswegs immer die Lösung, sondern häufig Teil des Problems.“

An diese beiden Einsichten musste ich bei diesem Bibeltext denken. Es gibt viele biblische Texte, im Alten oder auch Ersten wie im Neuen Testament, die von oftmals gewalttätigen Konflikten zwischen Menschen sprechen, gerade wegen ihrer unterschiedlichen Glaubensausrichtungen. Oft genug also – und leider nicht nur in der Bibel – ist Religion Teil des Problems.

Elisabeth Birnbaum
ist Theologin und Bibelwissenschaftlerin

Getragen von einem guten Geist

Die Apostelgeschichte, das biblische Buch, aus dem der eben gehörte Text stammt, ist wohltuend anders: Hier wird eine beinahe utopische Geschichte erzählt, wie Religion die Lösung sein kann. In der Apostelgeschichte breitet sich die Botschaft von Jesus von Nazaret in der Welt aus. Aus einer kleinen Schar jüdischer Menschen, die diesem Jesus nachfolgen, wird eine große Gemeinschaft von jüdischen und nichtjüdischen Menschen, die der Botschaft Jesu glauben.

Eine Gemeinschaft von Menschen unterschiedlicher religiöser und – nicht zu vergessen –unterschiedlicher sozialer Herkunft. Diese Unterschiedlichkeit der Jesusanhänger wäre eigentlich geradezu prädestiniert für Konflikte. Und es gab sie wohl auch. Davon sprechen etwa die Briefe des Apostels Paulus.

Die Apostelgeschichte jedoch zeichnet ein anderes Bild: Hier waltet der Geist Gottes und ermöglicht das scheinbar Unmögliche: Konflikte werden friedlich gelöst, Trennendes ausgeräumt und Gemeinsamkeiten trotz Unterschiedlichkeit entdeckt. Und, das Wichtigste: Alles geschieht so, dass alle zufrieden sind.

Lebenskunst
Pfingstmontag, 29.5.2023, 7.05 Uhr, Ö1

Fassungslos vor Freude

Das wichtigste Wort in diesem Text – finde ich – ist das griechische Verb existemi. Es steht hinter dem deutschen: „sie konnten es nicht fassen“ – so wird die Reaktion der Jesusanhänger, die ja alle aus dem Judentum kommen, beschrieben, als sie erkennen, dass auch Menschen, die aus der griechisch-römischen Religion kommen, sich von der Botschaft Jesu im wahrsten Sinn des Wortes be-geistern lassen.

Die Fassungslosigkeit resultiert aus der jahrhundertelangen Erfahrung, dass Nichtjuden den eigenen Glauben nicht nur nicht teilen, sondern bekämpfen. Nur in den schönsten Heilsvisionen ihrer Propheten, von Jesaja bis Micha, scheint Einheit trotz Unterschiedlichkeit möglich: am Zion, am Gottesberg, wo alle Völker freiwillig hinpilgern.

Existemi bedeutet aber mehr als „fassungslos sein“. Es bedeutet im Grundsinn: wegstellen. Aus istemi („stellen“) und aus ex („heraus“). Weggestellt wird hier die gewohnte Vorstellung, dass in Glaubensfragen alle denselben Zugang haben und aus derselben Schicht kommen müssen. Und dass zwischen Menschen unterschiedlicher religiöser Herkunft keine Einheit möglich ist.

Für mich ist das eine wirklich frohe Botschaft: Religion kann auch die Lösung sein, wenn sie von einem Geist getragen wird, der das Trennende überwindet und Unterschiedliches als Bereicherung erkennt. Von einem Geist der Liebe, der Wertschätzung und des Friedens, der Vor-Stellungen, die in allem nur das Trennende erkennen, beseitigt, – und der fassungslos vor Freude macht.